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Floh nach Paraguay: Josef Mengele.

Foto: AP

Verschwörerisch senkt Anencir Flores da Costa die Stimme. "Hier war der Nazismus stark", sagt der 65-Jährige und schlägt sein Buch "Meine zwei Körper" auf. Er zeigt auf ein Foto aus dem Jahr 1936: Schulkinder schwenken Papierfähnchen mit der brasilianischen Flagge oder dem Hakenkreuz.

Cândido Godói, eine 7000-Seelen-Gemeinde unweit der argentinischen Grenze, ist jetzt wieder ins Gerede gekommen - auch wegen da Costa. Der Landarzt suggeriert nämlich in seinem Buch - einem schwer verdaulichen Trivialroman -, der KZ-Arzt Josef Mengele könnte hinter der weltrekordverdächtigen Zwillingsdichte in der São-Pedro-Schneise, einem zwölf Kilometer entfernten Weiler, stecken.

"Ich bin überzeugt, dass Mengele in den Sechzigerjahren in unserer Region war", sagt der freundliche Mann in seiner Praxis. "Das haben Augenzeugen bestätigt." Und er fährt fort: "In 37 der 67 Familien von São Pedro wurden Zwillinge geboren, viele von ihnen sind blond und blauäugig. Genetiker untersuchen das Phänomen, aber eine Erklärung haben sie bis heute nicht."

Dass der "Todesengel" seine Zwillingsversuche aus dem Vernichtungslager Auschwitz hier fortgesetzt hat, glaubt da Costa nicht. "Ich vermute eher, er hat sich für das Phänomen unserer Geburten interessiert."

Dass es das Thema nun in die Schlagzeilen der Weltpresse geschafft hat, ist dem Argentinier Jorge Camarasa zu verdanken. Camarasa hat sich ausführlich bei da Costa bedient - und Ende 2008 eine flott geschriebene Mengele-Biografie veröffentlicht. Im Klappentext heißt es zu den Zwillingen: "Ein Experiment von Mengele? Das ist möglich." Im Buch fehlt dafür jeglicher Beleg.

"Stadt der Obstbäume, Land der Zwillinge" prangt auf dem Eingangstor des Dorfes Cândido Godói. Die Gemeinde 550 Kilometer nordwestlich von Porto Alegre nutzt den mysteriösen Kindersegen mittlerweile touristisch: Alle zwei Jahre finden Zwillingstreffen statt. Gut 80 Prozent der Einwohner sind deutscher Abstammung. Viele Jugendliche unterhalten sich im Hunsrück- Dialekt, den ihre Vorfahren im 19. Jahrhundert nach Brasilien mitgebracht haben.

Doch die Jungbauern sind nicht von gestern: 60 von ihnen arbeiten gerade für zwei Jahre in der Dreiländerregion Österreich/Schweiz/ Liechtenstein. "Keine Ahnung, wo die Zwillinge herkommen", grinst Marcos Habitzreuter, 25, der gerade aus Vorarlberg zurückgekommen ist. "Aber: Vor vierzig Jahren gab es kaum Fernsehen."

In São Pedro hat man eine andere Theorie. Hinter einer "Wunderquelle" wurde ein Denkmal eingeweiht: Eine vollbusige Mutter mit zwei Kleinkindern auf den Armen. Daneben gibt es "Fruchtbarkeitswasser", aber auch T-Shirts und Souvenirs zu erstehen. Und Zwillingskinder im Schulalter sind genervt, weil sie ständig für Reporter posieren müssen.

Dass Mengele, der 1979 bei São Paulo ertrank, vor 45 Jahren durch Cândido Godói gekommen ist, hält der Historiker René Gertz für plausibel. Der "Todesengel" lebte auch in Paraguay, drei Fahrt-stunden westlich. "Alles Übrige", meint Gertz aber, "hängt wohl mit dem Bedürfnis nach Verzauberung zusammen." (Gerhard Dilger aus Cândido Godóir/DER STANDARD, Printausgabe, 28./29. 3. 2009)