Was hat der ehemals "penetrante Sozialist" Alexander Van der Bellen als Grün-Politiker verändert? "Zu wenig". Nicht zuletzt am Asketen Wolfgang Schüssel, den er schätzt, ist er gescheitert.

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Alexander Van der Bellen, außenpolitscher Sprecher der Grünen, fordert Vereinigte EU-Staaten und höhere Vermögenssteuern. SPÖ-Beitrag zahlte er nicht, ein Mal war er Revoluzzer, gescheitert ist er an der Posaune und Schüssel hungerte ihn aus. Renate Graber hat ihm zugehört.

STANDARD: Was lesen Sie gerade?

Van der Bellen: Dick Francis. Ich habe ungefähr 40 Bücher von ihm. Kennen Sie ihn? Seine Krimis spielen im Pferderenn-Milieu, Francis war selbst Jockey.

STANDARD: Lesen Sie Francis auch nur bis zehn Seiten vor Schluss, um selbst den Täter zu eruieren? Bei Agatha Christie tun Sie das.

Van der Bellen: Nein. Dieser Reiz der Agatha ist einzigartig; da hör ich kurz vor Schluss auf, beginne von vorn, und wieder und wieder, seit 50 Jahren. Irgendwann habe ich alle Christies fertig gelesen.

STANDARD: Warum ist Donald Duck ökonomisch betrachtet besser als Dagobert? Sie sind ja Donald-Duck-Fan, oder ist das Ihr PR-Gag?

Van der Bellen: Nein, Carl Barks' Donald Duck lese ich regelmäßig. Er macht mir gute Laune, ist die letzte Geschichte vor dem Schlafengehen. Das ist Literatur: Geschichten über Feindschaft, Freundschaft, Ehre, einander reinlegen und es bereuen. Donald ist einer, der immer Pech hat und immer aufsteht.

STANDARD: Ein Antiheld als Held.

Van der Bellen: Ein moderner Sisyphus. Ich habe jetzt das gesammelte Werk von Carl Barks gekauft, sauteuer. Ein Laufmeter, 30 Zentimeter hoch.

STANDARD: Was kostet der Meter?

Van der Bellen: Mehr als tausend Euro. Aber sehr schön gebunden, für Liebhaber. Zu Donald: Donald hat nie Geld, daher muss er das wenige, das er hin und wieder kriegt, ausgeben. Er ist typischer Vertreter der unteren Mittelklasse, immerhin hat er ja ein Haus in Entenhausen. Dagobert entspricht dagegen dem ökonomischen Weltbild des frühen Mittelalters, mit Schatzkammer, die man anfüllt. Das hat nichts mit der heutigen Ökonomie zu tun.

STANDARD: Um noch kurz bei Ihrer Privatlektüre zu bleiben: Wieso mögen Sie skandinavische Märchen? Wegen der Trolle?

Van der Bellen: Weil diese Märchen nicht christlich verfälscht sind. Sie sind noch grauslicher als unsere Märchen, aber nicht so moralisch. Und Trolle kommen jede Menge vor. Alle zwei Jahre hole ich meine Lieblingsgeschichte hervor: "Das blaue Band". Handelt von einer Mutter, die mit ihrem Kind über die Berge wandert, sie verirren sich und landen bei einem Troll. Und die Mutter tut sich mit dem Troll zusammen, zulasten des Kindes. Das legt sie aber alle rein und geht als Sieger hervor.

STANDARD: Also böse Mutter statt Stiefmutter.

Van der Bellen: Ja, und das finden Sie in keinem christlich verfälschten Märchen.

STANDARD: Josef Pröll und sein Budget sind eher auf Donald- als Dagobert-Seite anzusiedeln, oder?

Van der Bellen: Boshaft könnte ich sagen: Pröll ist der spiegelverkehrte Dagobert. Der akkumuliert Vermögen, Pröll Schulden. Fairerweise muss man aber sagen, dass das angesichts der Wirtschaftskrise unvermeidlich ist.

STANDARD: Die Grünen hatten in Ihnen elf Jahre einen Ökonomie-Professor zum Chef. Jetzt sind wir mitten in der Krise – und Sie werden außenpolitischer Sprecher. Wie können Sie das erklären?

Van der Bellen: Erstens wollte ich raus aus der Innenpolitik und zweitens wollte Eva Glawischnig, dass ich das mache. Es ist das Privileg, nicht zu jeder innenpolitischen Untiefe Stellung nehmen zu müssen. Und ein Vergnügen, täglich Herald Tribune und NZZ lesen zu müssen. Lieber wäre ich freilich Antiprovinzialismus-Sprecher.

STANDARD: Sicher hat es Ihnen gefallen, als Sie zu Ostern bei einer Syrien-Reise österreichischen UNO-Soldaten am Golan die Parade abgenommen haben.

Van der Bellen: Ich weiß nicht, wer Ihnen das erzählt hat. Da sind sechs, sieben Mann aufmarschiert zu meiner Begrüßung, wie sich's militärisch gehört. An Syrien zeigt sich, wie europazentriert wir sind. Dort gehen arabisches, ottomanisches, römisches Altertum ineinander über. Als Wien erst eine Baracke für römische Legionäre war, waren die Städte dort 2000, 3000 Jahre alt. Absurd zu sagen, die Region habe nichts mit Europa zu tun.

STANDARD: Dafür werden die Europäer immer EU-kritischer, die EU-Wahl interessiert die Österreicher kaum, Krise, Lunacek, Voggenhuber hin oder her. Wäre doch Ihre Aufgabe, den Sinn der EU zu erklären. Ist die Politik gescheitert?

Van der Bellen: Die Stimmung ist EU-kritisch, geschürt von manchen Medien und Politikern. Manchmal glaube ich schlicht, dass gegen Dummheit kein Kraut gewachsen ist. Ich will vor Ihnen nicht mit meiner Verzweiflung hinterm Berg halten. Ich habe oft überlegt: Welche Argumente könnte ich noch bringen, um den Sinn der EU zu erläutern? Und nahm Microsoft: Der US-Weltkonzern bekam Milliarden-Strafen von der EU-Kommission aufgebrummt. Welche andere Institution wäre im Stande, einem solchen Konzern die Stirn zu bieten? Und die Leute schauen mich mit großen Augen an und sagen: "Na und?"

STANDARD: Also: gescheitert.

Van der Bellen: Ich habe für mich die Konsequenz daraus gezogen, keine Details mehr zu erwähnen. Wir brauchen die Vereinigten Staaten von Europa, ein staatlicheres Gebilde als jetzt, einen Bundesstaat und kein Europa der Vaterländer. Wer dorthin nicht mit will, wie die FPÖ, soll halt nicht mit.

STANDARD: Wie soll das alles gehen? Die EU bringt doch nicht einmal eine Verfassung zustande.

Van der Bellen: Mit dem jetzigen Procedere nicht. Ich kann mir vorstellen, dass Vertragsänderungen mit einer europaweiten Volksabstimung in jedem einzelnen Land gleichzeitig stattfinden. Wenn die Mehrheit der Bürger und der Staaten dafür sind, ist die Geschichte durch. Die Länder, die dagegen waren, bekommen eine abgeschwächte Option angeboten: die privilegierte Partnerschaft. Dann bekommen sie eine Nachfrist von zwei Jahren, um zu entscheiden, ob sie wirklich draußenbleiben oder dabeisein wollen. Dafür müsste man aber vorher den EU-Vertrag ändern.

STANDARD: Wären Sie auch für eine europäische Wirtschaftsregierung?

Van der Bellen: Ja. Sarkozy hat das im Jänner auch gesagt, 14 Tage später hat er gemeint, wenn die französischen Autokonzerne Werke sperren wollen, dann bitte in Tschechien, aber nicht in Frankreich. So etwas würde ein europäsicher Wirtschaftsminister nicht denken, geschweige denn sagen.

STANDARD: Nationalismus eben.

Van der Bellen: Ja, nationale Maßnahmen zulasten des anderen, daraufhin Vergeltungsmaßnahmen des anderen. Genau das hat den Börsencrash 1929 erst zur großen Depression gemacht.

STANDARD: Weil wir bei der FPÖ waren: Immer mehr Junge wählen FPÖ.

Van der Bellen: Stimmt so nicht, bei den Jungen sind, je nach Ausbildung, die Blauen oder die Grünen stärker. Wir waren immer die Partei des Bildungsbürgertums.

STANDARD: Sie haben 1966 ÖVP gewählt ...

Van der Bellen: ...stimmt, das erste Mal, als ich wählen durfte, wählte ich ÖVP. Weil mir die Rundfunkreform der Regierung Klaus gefallen hat.

STANDARD: Sie waren in Ihrer Jugend in Innsbruck mit der späteren ORF-Chefin Monika Lindner befreundet.

Van der Bellen: Ja, in der Tanzschulzeit. Ein Jahr waren wir unzertrennlich.

STANDARD: Was sagen Sie zum heutigen Zustand des ORF?

Van der Bellen: Dass ich mir politische Sendungen jetzt nicht mehr so oft anschauen muss.

STANDARD: Josef Cap sagt, er finde den "Musikantenstadl" nicht schlecht. Haben Sie eine ORF-Lieblingssendung?

Van der Bellen: Ich schau mir gern den Bullen von Tölz an.

STANDARD: Nicht wirklich.

Van der Bellen: Im Ernst. Sie wissen ja: Die Bayern sind uns Tirolern nicht unähnlich.

STANDARD: Das schauen Sie sich aber bis zur Lösung an, oder drehen Sie vor der Aufklärung des Falles ab?

Van der Bellen: Da geht es ja weniger um den Mörder als den Bullen, seine Mutter, den korrupten Unternehmer, der mir besonders gut gefällt, und den Kirchenmann. So lange die vier vorkommen, bin ich glücklich.

STANDARD: Sie haben also einmal, 1966, ÖVP gewählt, später SPÖ, sind seit 1994 für die Grünen im Parlament, gelten als durch und durch bürgerlich...

Van der Bellen: Was ist bürgerlich?

STANDARD: Was ist es für Sie?

Van der Bellen: Sekundärtugenden wie Höflichkeit, Pünktlichkeit, Taktgefühl.

STANDARD: Gut. Und politisch?

Van der Bellen: Ich habe viele Milieus kennengelernt, wuchs in einer bürgerlichen Familie auf...

STANDARD: Sie entstammen holländisch-russischem Adel.

Van der Bellen: Mein Vater verstand sich als Mitglied des feudalen Rests des zaristischen Russlands.

STANDARD: Wie äußerte sich das?

Van der Bellen: In einer gewissen Familienarroganz. Da wird man nicht über Vermögen, Wissen oder Größe der Wohnung definiert. Da ist man Mitglied einer bestimmten Familie, lebenslänglich.

STANDARD: Gegen wen waren die Van der Bellens arrogant?

Van der Bellen: Allen gegenüber, die nicht dazugehörten.

STANDARD: Sie waren doch nur zu viert in Österreich.

Van der Bellen: Das ist ja das Absurde, wir waren eine winzige Familie. Und ich, der Durch-und-durch-Bürgerliche, war SPÖ-Mitglied...

STANDARD: ...länger als Sie Mitgliedsbeitrag zahlten, 1986 hat man Sie deshalb rausgeworfen. Warum haben Sie nicht bezahlt? Man kam doch abkassieren.

Van der Bellen: Das war das Schlimme, die wollten stundenlang tratschen, aber ich fand das anachronistisch. Ich war zufrieden, dass ich unter Vranitzky aus der Kartei entfernt wurde.

STANDARD: Nur weil Josef Cap damals gesagt hat: "Das Boot ist voll"?

Van der Bellen: Nicht nur, auch weil die SPÖ umweltpolitisch taub war.

STANDARD: Sie sagen, die SPÖ hätte das soziologische Phänomen an Hainburg nicht erkannt...

Van der Bellen: Ich auch nicht. Ich war auch nicht in der Au.

STANDARD: Sie waren ja nirgendwo, nie Revoluzzer und Aktivist, bis heute waren Sie nicht einmal in Kuba.

Van der Bellen: Aber neulich erst war die kubanische Botschafterin da und hat mich ermahnt, einmal zu kommen. Und ein kleines Fähnchen möchte ich schon hochhalten: An der Uni Innsbruck haben wir Ende der 60er alle alten Assistenten abgewählt, ich wurde, Jahre vor Firnbergs Reform, mit 25 Vorsitzender des Assistentenverbandes. Ich war penetranter Sozialist und trotzdem Assistent an Professor Andreae's Institut für Finanzwissenschaften. Meine Kollegen und ich galten als die rote Brut.

STANDARD: Dafür waren Sie davor im Evangelischen Posaunenchor.

Van der Bellen: Mein Klavierlehrer fand, meine rhythmische Anpassung gehört verbessert und schickte mich zum Zugposaune-Spielen. Meine Meisterleistung war Weihnachten, Turmblasen vom Kirchturm – und ich? 20 Sekunden vor den anderen fertig. Katastrophe.

STANDARD: Sind Sie heute Zyniker oder Weltverbesserer?

Van der Bellen: Wenn ich wählen muss: Zyniker. Warum?

STANDARD: Ökonomen sind Zyniker, Volkswirte Weltverbesserer, das haben Sie einmal so erklärt.

Van der Bellen: Glaube ich nicht. Früher haben wir oft über den Riesenunterschied zwischen Betriebs- und Volkswirten gespottet: Der Betriebswirt will die Welt verstehen, um sich zu bereichern. Der Volkswirt, um sie zu verändern.

STANDARD: Was haben Sie als Politiker verändert?

Van der Bellen: Zu wenig.

STANDARD: Sie haben es nicht geschafft, die Grünen in die schwarz-grüne Koalition zu führen. Wolfgang Schüssel schätzen Sie aber, warum?

Van der Bellen: Schüssel hatte ein Ziel, das man nachvollziehen konnte, auch wenn man es nicht gebilligt hat. Was will Faymann? Was will Pröll? Die administrieren nur vor sich hin. Schüssel ist der seltene Typus eines sehr intelligenten, asketischen Politikers. Mit allen Schattenseiten: Bei den Regierungsverhandlungen konnte man sich nicht wehren gegen ihn, weil man schlicht verhungert und verdurstet ist. Er braucht nie was.

STANDARD: Zurück in die Gegenwart. Oberösterreichs Landesvizechef, Erich Haider, droht: "Leute, die mit Aktien spekulieren, müssen wissen, dass sie unerwünscht sind." Was sagen Sie dazu?

Van der Bellen: So ein Unsinn.

STANDARD: Bitte um ein paar schnelle Assoziationen; das mögen Sie sicher...

Van der Bellen: Ich liebe das.

STANDARD: Nationalratspräsident Martin Graf?

Van der Bellen: Vorsicht, er klagt sehr gern. Die Gäste seiner Burschenschaft Olympia sind für mich nicht weit vom Nazi-Milieu entfernt.

STANDARD: Meinl?

Van der Bellen: Julius? Einen sechsten wird es wahrscheinlich nicht geben.

STANDARD: Karl-Heinz Grasser?

Van der Bellen: Händlermentalität, kein Investor.

STANDARD: Kapitalismus?

Van der Bellen: Das effizienteste System, das je erfunden wurde. Irgendetwas muss ich den Wiener Grünen ja zum Kritisieren geben.

STANDARD: Reichensteuer?

Van der Bellen: Blödsinn. Man wird bei der Besteuerung wohl unterhalb der Reichen ansetzen müssen, sonst lohnt sich's einnahmenseitig nicht.

STANDARD: Gier?

Van der Bellen: Ein zu strapaziertes Wort, die Bankenkrise hat mindestens so viel mit Schwachsinn zu tun. Höchstbezahlte Manager machen Trillionen-Geschäfte, deren Risiko sie nicht kennen? Das ist Schwachsinn.

STANDARD: Österreichische Banken?

Van der Bellen: Ihr Engagement im Osten ist richtig, aber sie sollten endlich offen informieren statt Hausnummern zu nennen. Sie werden doch hoffentlich sagen können, wo und wie ihre rund 300 Mrd. Euro Kredite im Osten liegen, wie sie bis wann umgeschuldet werden können. Ich halte es aber auch für möglich, dass sie gar nicht wissen, welche Risiken und Papiere in ihren Banken schlummern.

STANDARD: Können Sie sich vorstellen, dass die Banker derzeit gut schlafen? Ich frage viele, und die meisten behaupten das.

Van der Bellen: Das ist der Berufshyperoptimismus erfolgreicher Manager, bis es zu spät ist.

STANDARD: Könnte es nicht auch Hybris sein?

Van der Bellen: Hybris ist es dann, wenn sie selbst dran glauben.

STANDARD: Franz Voves?

Van der Bellen: Pfff. Zu ihm fällt mir nichts ein.

STANDARD: Aber er hat die Umverteilungsdebatte in der SPÖ angeheizt. Und es wird wohl umverteilt werden.

Van der Bellen: Man soll die Vermögensbesteuerung anheben und die Abgaben auf Arbeit senken. Das wäre ökonomisch sinnvoll. Wir werden unser hohes Defizit refinanzieren müssen und landen so bei der Umverteilungsdebatte: Denn wer wird das zahlen? Wohl die, die sich's leisten können und nicht die Leute mit 1000-Euro-Einkommen. Da wird es dann das große Klassenkampf-Geschrei geben. Gut, wenn das Klassenkampf ist, soll es Klassenkampf sein.

STANDARD: Was tun Sie mit Ihrem Geld? Aktien?

Van der Bellen: Nicht eine. Ich habe ein Haus im Burgenland und bin bei der Bank verschuldet. Aber es gibt Licht am Horizont. Für Aktien habe ich keine Hand: Als die ÖMV an die Börse ging, habe ich ein paar Aktien gekauft und zum falschesten Zeitpunkt verkauft. Das wars.

STANDARD: Sie sagen, Politik ist keine moralische Anstalt. Was ist sie?

Van der Bellen: Alle zitieren an dieser Stelle Max Weber: das Bohren dicker Bretter. Ich sage so: Man braucht unermessliche Geduld und irgendwann reicht's einem dann.

STANDARD: Worum geht's im Leben?

Van der Bellen: Trotz der offensichtlichen Vergeblichkeit zu versuchen, das Beste draus zu machen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25./26.4.2009)