"Seit ich hören kann, wird beklagt, dass Schüler weniger lernen würden. Aber das hat mir schon mein Vater erzählt, dass ihm das sein Vater erzählt habe": Walter Schacher-mayer, Mathematiker.

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DER STANDARD: Bei einer Vergleichsstudie des Wissenschaftsfonds FWF kam heraus, dass - gemessen an den Publikationen und Zitierungen - die Mathematik in Österreich im Vergleich zu allen anderen Disziplinen den geringsten Abstand zur Weltspitze hat. Überrascht Sie das?

Schachermayer: Es ist immer sehr verführerisch, solchen Rankings zuzustimmen , wenn man selbst gut abschneidet. Ich bin gegenüber solchen Bewertungen aber generell recht kritisch. Es stimmt aber, dass sich die Mathematik in den letzten 20, 25 Jahren in Österreich sehr gut entwickelt hat. Vor einem längeren Hintergrund betrachtet, war Wien in den 1920er- und 1930er-Jahren wirklich eines der Topzentren der Mathematik weltweit mit einem Dutzend junger Genies, die hier unter zum Teil sehr schwierigen Bedingungen gearbeitet haben. Damit war 1938 ziemlich abrupt Schluss, und danach gab es einige eher dürre Jahrzehnte.

DER STANDARD: Irgendwie scheint es die Mathematik wieder geschafft zu haben. Haben Sie dafür Erklärungen?

Schachermayer: Die Mathematik hatte es insofern leichter, weil es bei uns kein aufwändiges Equipment braucht. In der Mathematik kommt es sehr auf die Leistung einzelner Personen an. Was man braucht, ist ein stimulierendes Umfeld. Und Zeit und Muße zum Nachdenken. Wichtig ist sicher auch, dass die Form der Forschungsfinanzierung, die der FWF in Form von Einzelprojekten betreibt, der Mathematik gut entspricht und mit den ausländischen Gutachtern hervorragend funktioniert.

DER STANDARD: Wie sieht Ihr mathematisches Umfeld hier in Wien aus?

Schachermayer: Ich genieße es sehr, hier im Haus mit Kollegen aus verschiedensten Disziplinen in einem natürlichen Kontakt zu stehen. Im nächsten Semester mache ich zum Beispiel ein Seminar über mathematische Methoden in der Evolution der DNA zusammen mit Biologen. Das ist auch fachlich gar nicht so weit weg, von dem was ich mathematisch mache. Es hängt auch ein bisschen davon ab, mit wem man über einem Bier zum Plaudern kommt.

DER STANDARD: Sie selbst sind aber Finanzmathematiker, ihr Bereich, gilt als anwendungsorientiert, und Sie haben nach Ihrer Habilitation sogar zwei Jahre bei einer Versicherung gearbeitet. Wie ist das Verhältnis zwischen der reinen und der angewandten Mathematik?

Schachermayer: Ich zitiere in dem Zusammenhang immer gerne den Physiker Ludwig Boltzmann, der meinte, dass das Allerpraktischste eine gute Theorie sei. Wir sind innerhalb der Mathematik in der glücklichen Situation, dass es kaum Rivalität zwischen der reinen und der angewandten Mathematik gibt. Sie befruchten sich vielmehr wechselseitig. Das Wunderschöne ist, dass wir quer durchs Fach im Grunde mit derselben Methode arbeiten. Sprich: Wir sind uns alle einig, was ein Beweis ist, und ob er stimmt. Und ich weiß auch: Wenn mich etwas interessiert, dann kann ich mich hinsetzen, das lernen und auch in dem Bereich arbeiten.

DER STANDARD: Wie erklären Sie als Finanzmathematiker, was vor knapp einem Jahr zum Ausbruch der großen Finanzkrise führte? Und welche Rolle hat dabei die Mathematik gespielt?

Schachermayer: Klar ist, dass die Deregulierung im Finanzsektor ganz wesentlich zur Krise beigetragen hat. Wenn einmal so biedere Institutionen wie die Sächsische Landesbank das Zehnfache ihres Eigenkapitals für riskante Investitionen garantiert, und das nicht einmal in der Bilanz aufscheint, dann ist etwas grob schief gelaufen. Es kann und darf aber natürlich auch nicht sein, dass sich etwa die ÖBB ohne das geringste Know-how auf solche Geschäfte einlassen können. Es ist ja nicht so, dass die Mathematiker falsch gerechnet hätten. Es lag eher darin, dass Mathematiker zu wenig Einfluss hatten.

DER STANDARD: Was meinen Sie damit?

Schachermayer: Neben wir den Vergleich mit den Versicherungsgesellschaften. Im 19. Jahrhundert sind Dutzende Versicherungsgesellschaften bankrott gegangen - nicht zuletzt deshalb, weil sich Lebensversicherungen für pyramidenspielartige Konstruktionen sehr anbieten. Aufgrund dieser Probleme hat sich die klassische Versicherungsmathematik entwickelt, die solche Pyramidenspiele verunmöglichte. Im Versicherungsbereich ist heute eine Unternehmenskultur etabliert, wo Mathematiker einen entsprechend hohen Einfluss haben, im Vorstand vertreten sind und die Bilanz unterschreiben müssen. Deshalb haben sogar Katastrophen wie 9/11 oder große Naturkatastrophen nicht dazu geführt, dass Versicherungsgesellschaften pleite gegangen wären. Die Risiko-Teilung durch die Rückversicherungen hat da bestens funktioniert.

DER STANDARD: Und im Bankenbereich fehlt diese Unternehmenskultur?

Schachermayer: Genau. Eine der Lehren ist deshalb, dass man gerade in dem Bereich eine bessere mathematische Ausbildung braucht.

DER STANDARD: Welche Lehren sind sonst noch aus der Krise zu ziehen?

Schachermayer: Es sollten für die Banken jedenfalls keine riesigen Over the Counter-Geschäfte mehr möglich sein. Es muss klar gemacht werden, womit überhaupt gehandelt wird, und was die zugrunde liegenden Risiken sind. Am Ende war es ja oft so, dass die Banken selbst nicht mehr wussten, welche Risiken sie übernommen hatten. Klar ist auch, dass das erfolgsabhängige unappetitliche Verdienstsystem für Banker zur Destabilisierung beigetragen hat. Und wenn der Staat daran scheitert, gerechtere Bezahlungsschemata einzuführen, dann soll er solche Großverdiener wenigsten nicht noch steuerlich begünstigen.

DER STANDARD: Inwieweit wird in der Praxis ernst genommen, was in der akademischen Welt der Finanzmathematik gemacht und vorgeschlagen wird?

Schachermayer: Es gibt sowohl über die Ausbildung wie auch über die Forschung sehr enge Verbindungen. Und diese Forschung - auch sehr anspruchsvolle, komplexe Mathematik - findet durchaus Eingang in die Praxis. Aber es liegt in der Natur der Sache, dass die Praxis sich wenig um den warnenden Zeigefinger der Akademiker schert, wenn es darauf ankommt.

DER STANDARD: Auch die Ökonomie hat sich in den letzten Jahren stark mathematisiert. Wie schätzen sie diese Entwicklung ein?

Schachermayer: Das ist wieder eine eigene Geschichte. Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Samuelson wurde einmal gefragt, ob es nicht gescheiter wäre, die Formeln in Prosa zu schreiben und er meinte, dass das schon stimmen möge. Aber für ihn sei das zu kompliziert. Die Mathematisierung ist eine Sprache, die ab einem gewissen Komplexitätsgrad sehr praktisch ist, wie auch die Physiker, Chemiker und Biologen wissen. Der Beginn der Finanzmathematik - konkret: das so genannte Black-Scholes-Modell in den 1970er-Jahren - war ein Schock für die Ökonomen, weil man damit Finanzoptionen ganz ohne den Apparat der Ökonomie bewerten konnte.

DER STANDARD: Es heißt immer wieder, dass die Mathematik-Ausbildung in unseren Mittelschulen schlecht sei. Erleben Sie das als Uni-Professor auch so?

Schachermayer: Seit ich hören kann, wird beklagt, dass die Schüler im Gymnasium immer weniger lernen würden. Aber das hat mir schon mein Vater erzählt, dass ihm das sein Vater erzählt habe. Und selbst Plato hat das schon gegenüber Aristoteles beklagt. Nein, ich sehe da wenig Probleme: Wir haben genug gute Leute, die ein Mathematikstudium beginnen.

DER STANDARD: Wie sieht es mit der Geschlechterverteilung aus?

Schachermayer: Unter den Studierende ist es etwa 50:50. In der Forschung ist es noch nicht so, aber es entwickelt sich in diese Richtung. Unter meinen jungen Mitarbeitern gibt es zum Beispiel mehr junge Frauen als Männer - und nicht deshalb, weil ich das als Ziel per se angestrebt hätte, sondern weil sich das ganz natürlich so ergeben hat. Beim Verhältnis von Professorinnen zu Professoren sieht es allerdings noch etwas anders aus.

DER STANDARD: Und wie stehen die Chancen für die Absolventen eines Mathematikstudiums?

Schachermayer: Die haben bisher blendende Möglichkeiten gehabt - und sind auch zu einem guten Teil in den Finanzbereich gegangen, auch international. Im Moment ist auch dieser Arbeitsmarkt in einer gewissen Krise. Nichtsdestotrotz werden diese Leute nach wie vor sehr gesucht. Und für die Zukunft bin ich überhaupt sehr optimistisch. (DER STANDARD, Printausgabe, 12.08.2009)