Lenin-Büste in der transnistrischen Hauptstadt Tiraspol vor dem "Haus der Sowjets". Die Innenstadt wirkt wie ein Themenpark, in dem Touristen die Sowjetunion nähergebracht werden soll.

Foto: Wölfl

Nur ein Fußballclub eint sie.

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Lenin will fliegen lernen. Mit wehendem Mantel aus rotem Stein sieht er zu, wie die Jugendlichen vom "Gymnasium Vier" den Boulevard 25. Oktober hinunterlaufen. Helle Frauenstimmen, sowjetische Animiermusik aus den Siebzigerjahren beschallt Tiraspol, die Hauptstadt von Transnistrien. Das nationale Radio lädt zu einer Zeitreise ein: einmal zurück in die Sowjetunion.

Transnistriens ewiger Präsident Viktor Smirnov schüttelt auf einem vergilbten Plakat seinem russischen Kollegen Dmitri Medwedew die Hand. Der lächelt verlegen. "Nur in der Einigkeit mit Russland sind wir stark" , steht da. Die Pensionen der Transnistrier werden von Moskau bezahlt. Auf dem Wappen der Pseudorepublik prangen Weintrauben, Getreide, Wasser, die Sonne, der Sowjetstern und Hammer und Sichel. Gas und Öl werden von Moskau garantiert. Da ist es zweitrangig, dass man nicht einmal eine Grenze mit Russland hat und die Vorhut von einem Imperium spielt, das es längst nicht mehr gibt.

Die Innenstadt Tiraspols ist gesperrt, bis zum "Haus der Sowjets" mit dem schwarzen Lenin davor, der noch finsterer schaut als der Rote. Überall stehen Polizisten mit Kappen, die so hoch sind, als sollten sie nicht nur die Männer größer wirken lassen, sondern auch den Staat, den sie repräsentieren. Transnistrien hat 550.000 Einwohner, ist etwa so groß wie das Burgenland und schaut auch ein wenig so aus. 1992 hat sich der russisch-dominierte Streifen der Exsowjetrepublik Moldau in einem blutigen Konflikt abgetrennt.

Sheriff statt Lenin

An dem Panzer, der an diesen Konflikt erinnert, stöckeln Frauen in hautengen "stonewashed" Jeans vorbei. Die Läufer vom Verteidigungsministerium holen gerade jene von der Textilfirma Tirotex ein. Tirotex gehört zu der Sheriff Holding, dem größten Arbeitgeber. Zu dem Konzern gehören die Likörfabrik Kvint, das Tele-Unternehmen IDC, der Privat-Kanal TSW, die Sheriff-Tankstellen und Supermärkte. Oligarch Viktor Gushan - er war Polizist: deshalb der Name "Sheriff" - ist der Mann der Zukunft. Die Partei hinter ihm heißt Obnovlenije (Erneuerung) und gewann die Kommunalwahlen im März. Wenn Transnistrien ein Staat wäre, würde man wohl von "state capture" sprechen.

Buben mit dem aktuellen transnistrischen Haarschnitt - einer Igelfrisur - brüllen von der Tribüne: "Sheriff ist unbesiegbar! Wir werden dich nie verraten!" , so als ginge es darum, das Vaterland zu verteidigen. Sheriff gehört auch das Fußballstadium und der Club FC Sheriff. Heute spielt Sheriff gegen den moldauischen Club Balti.

Jana steht auf den Mittelfeldspieler Wilfried Balima. Für viele hier ist der Mann aus Burkina Faso ein transnistrisches Idol. Da es Transnistrien aber offiziell nicht gibt, dürfen FC-Sheriff-Spieler nur gegen Ausländer antreten, wenn sie in Moldaus Nationalteam mitspielen. In diesem Fall hält Jana sogar zu dem Land, dessen Staatsbürgerin sie nicht sein möchte. Die Friseurin in den schwarzen Leggins fährt nur nach Moldau, um sich einen Pass machen zu lassen. "Denn mit einem transnistrischen Pass kommst du nicht weit." Seit fast zwanzig Jahren gibt es keine Bewegung im Transnistrien-Konflikt. Politiker beider Seiten beharren auf den Maximalforderungen.

Jana würde lieber zu Russland gehören, "weil die russischen Soldaten hier wenigstens den Frieden bewahren" . Von einem Krieg ist allerdings nichts zu bemerken. Die moldauischen Spieler laufen so lustlos über den Rasen wie die schwarz-gelben Sheriffs. Adrian möchte seinen echten Namen nicht verraten. "Ich bin Moldauer" , sagt der 15-Jährige. "Meine Muttersprache ist Moldauisch, und Transnistrien ist kein russischer Boden." In der EU war er noch nie. Dennoch fühlt er sich dem Westen zugehörig.

Es ist nicht nur der Dnjestr, der hier die Grenze bildet, die oft mitten durch die Menschen verläuft. Die russlandaffinen Transnistrier fürchten die Dominanz der prorumänischen Moldauer. Die Moldauer fühlen sich um ihr Territorium betrogen.

Wenn Moldau gegen Russland spielt, dann ist Lena mit ganzem Herzen Moldauerin. "Aber wenn wir Transnistrier gegen die Moldauer spielen, bin ich natürlich für Transnistrien" , sagt die 25-Jährige. "Ich bin eine Mischung. Und Transnistrierin zu sein, vereinigt alles. Wir sprechen Russisch mit Akzent und fragen auf Moldauisch: Ce faci? - Was machst du?" Der FC Sheriff hat mittlerweile gewonnen. Die Cheerleaders lassen ihre goldenen Pompons fallen. Die Buben brüllen nicht mehr. Der Sheriff-Stern glänzt im Abendlicht.

Lena hat Freunde in Moldau, weil sie in einer Sommerschule war, die von der Agentur der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit (ADA) unterstützt wird, in der sich Studenten beider Seiten treffen. Sie will aber, dass alles so bleibt. "Wir sind lieber unabhängig, als dass wir uns in einem Größeren verlieren" , sagt die Studentin aus dem Niemandsland.

Lena gehört einer Generation an, die den Krieg nur aus Kindheitsbildern von Flugzeugen in der Luft, einem Sommer bei Verwandten in der Ukraine und nervösen Eltern kennt. Wie viele von diesseits und jenseits des Dnjestrs ist sie zu jung für eine gemeinsame Vergangenheit. Und wohl für eine gemeinsame Zukunft. (Adelheid Wölfl aus Tiraspol, DER STANDARD, Printausgabe, 28.4.2010)