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Die Entwicklung der kindlichen Wirbelsäule wird durch das viele Sitzen gestört.

Foto: APA/Manfred Präcklein

Regensburg (obx-medizindirekt) - „Die dümmste Erfindung in unserem westlichen Kulturkreis ist der Stuhl", das sagt Günter Vogel, Anthropologe und Fachmann für das Sitzverhalten. Trotzdem stehen jedem Westeuropäer, statistisch gesehen, nicht weniger als 50 Sitzgelegenheiten zur Verfügung - einschließlich der Parkbänke, Büro-, Kirchen- Theater- und Gefängnisstühle. Und sie werden fleißig genutzt. 14 Stunden des Tages verbringt der Mensch durchschnittlich im Sitzen. Das Sitzen ist nach Ansicht von Ärzten mittlerweile zu einer Kollektivstrafe der zivilisierten Menschheit geworden.

Was einst das Privileg von Königen und Kirchenfürsten war, hat sich zur Volkskrankheit unserer Tage entwickelt: Das Sitzen. Der Mensch ist nicht zum Sitzen gemacht. Denn eigentlich ist er seiner Entwicklungsgeschichte nach ein Vierbeiner. Einer, der sich im Lauf der Zeit aufgerichtet hat und seine Wirbelsäule mehr schlecht als recht in der Balance hält. Damit nicht genug. Je weniger der Mensch sich bewegt, desto schwächer wird die Rumpfmuskulatur, die dem Rücken eigentlich Halt geben sollte. Stattdessen wird sie im Sitzen auch noch permanent in falscher Weise angespannt.

Acht von zehn haben Rückenschmerzen

Die Folgen: 80 Prozent aller Deutschen leiden irgendwann an Rückenschmerzen, berichtet der deutsche Reportagedinest obx-medizindirekt. Bandscheibenschäden gehören zu den 20 häufigsten Diagnosen bei Krankenhauspatienten. Krankschreibungen wegen Rückenschmerzen verursachen insgesamt rund 50 Millionen Ausfälle von Arbeitstagen pro Jahr. Und natürlich immense Kosten. Und außerdem hat annähernd jeder fünfte Frührentner den vorzeitigen Ruhestand seinem Rückenleiden zu verdanken.

Aber das alles müsste nicht sein, wenn die Menschen sich mehr Bewegung verschaffen und das richtige Sitzen erlernen würden. Denn Sitzen ist nach neuesten Erkenntnissen eine Wissenschaft für sich. „Schon im Kindesalter wird viel falsch gemacht", erklärte Eduard Schmitt, leitender Oberarzt der Orthopädie an der Uniklinik Homburg/Saar. „Nur 17 Prozent der Schulkinder sitzen an geeigneten Schulmöbeln", kritisierte Dieter Breithecker, Leiter der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung in Wiesbaden.

Immer in Bewegung bleiben

Auch die Entwicklung der kindlichen Wirbelsäule wird durch Bewegungsmangel und zu vieles Sitzen gestört. „Statt in der Freizeit zu spielen und zu toben, sitzen Kinder oft zusätzlich zum Unterricht noch vier bis fünf Stunden am Computer oder vor dem Fernseher", sagt Schmitt. „Das ist fatal für den Bewegungsapparat." Aber es gibt Hilfe. Bei Kindern heißt die Devise: „Lasst den Philipp doch mal zappeln" - was so viel bedeutet wie: Kinder müssen hampeln, mit dem Stuhl kippeln und ihrem Bewegungsdrang nachgeben dürfen. 

Erwachsene in sitzenden Berufen sollten sich ihrerseits nach Ansicht der Mediziner das „dynamische" oder „bewegte Sitzen" angewöhnen: Das bedeutet einen ständigen Wechsel zwischen Arbeiten im Sitzen, Stehen oder sogar Gehen. Auch Lümmeln, Fläzen und Stuhlkantensitzen ist zwischendurch mal erlaubt. Hauptsache: nicht stundenlang in der immer gleichen Sitzposition verharren.

Denn die Bandscheibe, also der Stoßdämpfer zwischen den einzelnen Wirbelkörpern des Rückgrates, ist ein gallertiges Polster, das nur durch den Wechsel von Druck und Entlastung mit notwendigen Nährstoffen versorgt werden kann. Auch die Muskeln des Stütz- und Halteapparates werden durch bewegtes Sitzen gebraucht, gelockert und genährt. 

Wichtig ist daneben eine sportlich aktive Freizeitgestaltung, die sowohl Ausdauersport wie Walking, Joggen, Tennis oder Schwimmen, als auch Kraftübungen im Fitnessstudio, Aerobic oder Gymnastik beinhalten sollte. Mehr als 80 Prozent aller in Therapiezentren betreuten Rückenpatienten wurden bisher durch spezielles Training innerhalb von vier bis sechs Monaten beschwerdefrei. In vielen Fällen wurden dadurch sogar geplante Operationen überflüssig. (red)