Stadtwildnis im dritten Wiener Gemeindebezirk

Foto: jus/derStandard.at

Auf den Aspanggründen sollen 3000 Wohnungen bis 2016 entstehen

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Die Gstett'n als Rückzugsgebiet im grauen Großstadtdschungel

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Andrea Schnattinger und Wilfried Doppler sind in ihrem Element. "Ist das eine Nachtkerze?", fragt die Wiener Umweltanwältin. "Ja, aber untertags hat sie ihre Blüten leider geschlossen", entgegnet der Stadtökologe und tippt auf die gelben Blütenblätter. Sie befinden sich auf einer "ungepflegten Grünfläche" auf der Baustelle der Aspanggründe, einer sogenannten "Gstett'n", einem Ort, der zumindest temporär von der Natur zurückerobert werden darf. Im Westen ziehen Kräne einen neuen Stadtteil in die Höhe, im Osten donnern die Lastwagen und die Wagons der Straßenbahnlinie 18 über die Landstraßer Hauptstraße. Der kleine Flecken Stadtwildnis bietet den Bewohnern des dritten Wiener Gemeindebezirks eine kleine Ruheoase.

Gstett'n entstehen zum Beispiel auf Baulücken, alten Fabriksgeländen, verwilderten Gärten oder entlang von Bahnschienen. Sie bieten jedoch nicht nur einen Rückzugsraum für Menschen, sondern auch für Tiere und Pflanzen. Besonders Stadtkindern wird dadurch ein Erlebnis in der Natur ermöglicht - abseits von künstlich designten Parks, in denen vielleicht noch dazu das Betreten der Rasenfläche verboten ist. "Einen Käfer in der Hand spüren, einen Ast abbrechen: Natur unmittelbar zu erleben ist für Kinder sehr wichtig", ist Wilfried Doppler überzeugt.

Die Baulücke bei den Aspanggründen bietet dazu die Gelegenheit, erinnert sie doch eher an die Kulisse eines Astrid Lindgren Romans, als an urbane Funktionalität, in der oft wenig Platz für kindliche Entdeckungslust bleibt. Um eine kleine Übersicht dieser Verwilderungsareale zu schaffen, veröffentlichte die Wiener Umweltanwaltschaft in der nun bereits vierten Auflage den "Gstettnführer", der erstmals 1994 erschien. Im Sommer 2008 wurden die Stadtwildnisflächen erneut überprüft und Veränderungen dokumentiert.

Lebensraum auf Zeit

Intensiver Regen und Sonnenschein der vergangenen Wochen verfehlten ihre Wirkung auf der Gstett'n Aspanggründe nicht: Es wuchert, sprießt und krabbelt hier inmitten eines Ortes des "Nutzlosen", einem Stück Stadt, das noch nicht bebaut ist. Von banalem Klee, Kletten und Disteln über wilde Karotten bis hin zu Heilkräutern wie Johanniskraut oder Kamille zeigt sich die Vegetation in bunten Facetten. "Alteingesessene" Arten wie das Hirtentäschel ringen mit Einwanderern, sogenannten Neophyten, wie dem Götterbaum um den knappen Boden. Die Wiesen sind gut besucht von Insekten, werden aber erst in den kommenden Wochen ihre volle Farbenpracht entfalten. Die Tiere folgen schnell: Maulwürfe, Fledermäuse, Schmetterlinge, Eidechsen, Gottesanbeterinnen, Wechselkröten oder Libellen teilen sich das Stück Natur inmitten eines immer grauer werdenden Großstadtdschungels. "Als Naturschützer stimmt es mich zuversichtlich, wie die Natur nach kurzer Zeit zum Vorschein kommt", sagt Doppler.

"Auf Brachflächen siedeln sich Arten an, die in kurzer Zeit viele Samen ausbilden und sich damit rasch vermehren können. Viele davon sind auch optisch sehr attraktiv", erklärt Andreas Muhar, Leiter des Instituts für Raum, Landschaft und Infrastruktur an der Universität für Bodenkultur in Wien (Boku). Diese Entwicklung sei sehr stark von Zufällen abhängig, berichtet er: "Wer als erster kommt, gewinnt. Erst nach einigen Jahren beginnt dann eine systematische Weiterentwicklung, etwa wenn erste Gehölze aufkommen."

Natur für Stadtbewohner

Die Möglichkeit von Gstett'n das Stadtklima positiv zu beeinflussen, sei jedoch begrenzt, sagt Muhar. Das liege vor allem an ihrer geringen Größe: "Abkühlung oder Anreicherung mit Luftfeuchtigkeit sind natürlich vor Ort merkbar. Es gibt aber meist kein größeren Bäume, die eine stärkere klimatische Wirkung aufweisen könnten." Das wesentliche Argument für ein Stück Stadtwildnis sei, dass dort die Bevölkerung die Natur als etwas Veränderliches wahrnehmen kann, sagt der Boku-Mitarbeiter: "Egal, wieviele Arten dort vorkommen: Es gibt immer eine große Dynamik, Bestände wachsen und brechen wieder zusammen, jedes Jahr schaut die Fläche anders aus. Und wir können die Flächen auch mit viel weniger Einschränkungen nutzen, können Aktivitäten ausüben, die in den geregelten Parkanlagen nicht möglich sind."

Frage der Haftung

Gibt es einen Grund, warum Baufirmen und Grundbesitzer die brachstehenden Gebiete einzäunen sollten? "Es ist eine Frage der Haftung. Wenn jemand zu Schaden kommt, oder eine massive Verschmutzung entsteht, sind die Eigentümer dran", sagt Doppler. Das mag ein Grund sein, warum die Bewohner Wiens viele Gstett'n nicht betreten dürfen.

Der Stadtökologe und die Umweltanwältin sind am Ende ihres Spaziergangs angelangt. Ein kleiner Tümpel am Wegesrand zieht die Aufmerksamkeit der Umweltschützer auf sich. Fachkundig bestimmen sie die kleinen Insektenlarven. "Das sind rote Mückenlarven", Schnattinger zeigt auf kleine Punkte, die sich kaum bewegen. "Man muss aber auch dazu sagen, dass das", sie deutet auf etwas länglichere Punkte, "Gelsenlarven sind." Doppler nickt und ergänzt: "Ja, uns freut das vielleicht nicht, aber die Libellen freut das schon." Genauso wichtig sind Schlamm und Wasser für die Wechselkröten und Mehlschwalben, die den Tümpel zum Ablaichen oder zum Sammeln von Nistmaterial aufsuchen.

In der Gstett'n Aspanggründe hat sich bereits nach kurzer Zeit ein dynamisches Ökosystem gebildet. Die Stadtentwicklung kann darauf dennoch keine Rücksicht nehmen: Bis 2016 soll hier ein neues Stadtviertel entstehen, das 3000 Menschen in 1700 Wohnungen Lebensraum bietet. (Julia Schilly, derStandard.at, Juni 2010)