Horst Schalk ist Allgemeinmediziner in Wien und Initiator der "Österreichischen Gesellschaft niedergelassener Ärzte zur Betreuung HIV-Infizierter" (ÖGNÄ).

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Armin Rieger: "Problematisch wird es, wenn alles gegen eine HIV-Infektion spricht, ein Patient jedoch von schweren Zweifeln und Unsicherheit geplagt wird und nach der PEP verlangt. Wenn ich sie vorenthalte, wendet sich der Betroffene ans nächste Zentrum. So lange, bis er sie bekommt."

Rund ein Drittel der Verletzungen mit Nadeln passiert im medizinischen Bereich, zwei Drittel erfolgen durch zurückgelassene Nadeln in Parkanlagen oder in öffentlichen Toilettenanlagen.

"Natürlich besteht das Risiko, dass man sich im Krankenhaus an einer Nadel sticht", weiß Armin Rieger, Leiter der HIV-Ambulanz im AKH Wien. "Mir ist jedoch nicht bekannt, dass in den letzten 15 Jahren in Österreich eine HIV-Transmission auf diesem Weg erfolgt wäre." Was aber nicht zwangsläufig bedeute, dass es sich um risikolose Vorkommnisse handle, gibt der Dermatologe zu bedenken.

1:2.000

Die Wahscheinlichkeit, sich im Krankenhaus oder in der Arztpraxis an einer mit HIV infizierten Hohlnadel anzustecken, liegt bei 1:2.000. "Wenn Sie jemanden auf der Straße fragen, wie hoch die Ansteckungswahrscheinlichkeit bei einer Stichverletzung mit einer HIV infizierten Nadel ist, wird er wahrscheinlich sagen '90 Prozent'", meint Horst Schalk, Arzt für Allgemeinmedizin in Wien und Initiator der "Österreichischen Gesellschaft niedergelassener Ärzte zur Betreuung HIV-Infizierter" (ÖGNÄ).

Wie sein Kollege warnt aber auch er vor einer Verharmlosung und setzt bei Hygienemaßnahmen für das medizinische Personal an: "Früher war es durchaus üblich, nach einer Blutabnahme oder Injektion, die Plastikhülle wieder auf die Nadelspitze zu setzen und die gebrauchte Spritze irgendwo einzustecken", erzählt Schalk. Das ist heute in Krankenhäusern und Arztpraxen absolut verboten. "Bei mir liegt keine Nadel offen herum", betont der HIV-Experte. Scharfe oder spitze Instrumente werden nach Gebrauch umgehend in schnittfesten Containern entsorgt. Das Tragen von Arzthandschuhen gewährleistet, dass kein Blut auf eine offene Wunde gelangen kann.

Schutz durch Postexpositionsprophylaxe (PEP)

Wer sich durch Stich- oder Schnittverletzungen oder ungeschützten Geschlechtsverkehr einem HIV-Risiko ausgesetzt hat, kann etwas dagegen tun. In der Arztpraxis oder im Krankenhaus wird die Wahrscheinlichkeit einer Infektion evaluiert, bei Bedarf werden Postexpositionsprophylaxe (PEP) verordnet. Dabei handelt es sich um die vorbeugende Einnahme von Anti-HIV-Medikamenten über vier Wochen.

1990 wurde die PEP erstmals von der Schweizer Subkommission Klinik der Eidgenössischen Kommission für AIDS Fragen für den Fall von Verletzungen im Medizinalbereich empfohlen. Mittlerweile hat sie sich über den Medizinalbereich hinaus etabliert. "Jede Nadelstichverletzung sollte hinsichtlich des Risikos einer transmittierbaren Erkrankung bewertet werden", plädiert Armin Rieger für eine differenzierte Sichtweise, was die Verabreichung der PEP betrifft.

Rasch beginnen

"Das HIV-Risiko wird durch die PEP extrem gesenkt, es kann kaum zu einer Infektion kommen", weiß Schalk. Vorausgesetzt man beginnt so rasch als möglich damit - spätestens aber innerhalb von 72 Stunden. "Sehr viele Betroffene reagieren sehr rasch, aber wenn sie von der langen Einnahmezeit und den möglichen Nebenwirkungen hören, werden sie zögerlich." Zumal sie oft nicht einschätzen könnten, ob tatsächlich ein Risiko bestehe.

Nebenwirkungen

Die Medikamente verhindern die Vermehrung der in die menschlichen Zellen eindringenden HIV-Viren und entsprechen in etwa der Dauertherapie von HIV-Infizierten. Das Hauptaugenmerk liegt auf einer Medikamentenzusammenstellung mit guter Kurzzeitverträglichkeit. Irreversible gesundheitliche Schäden sind laut Rieger bei der vier Wochen dauernden Einnahme von PEP ausgeschlossen. Eventuelle Beeinträchtigungen des Magen-Darmtraktes könnten zwar vorkommen, aber medikamentös gelindert werden.

Diskriminierung

Dass das Bekenntnis zur eigenen HIV-Infektion in der Arztpraxis oder im Krankenhaus Diskriminierung mit sich bringen kann, bestätigt der Leiter der HIV-Ambulanz. Oft werden Patienten in Ambulanzen oder Arztpraxen gefragt , ob eine HIV-Infektion vorliegt. Ein ehrliches "Ja" könne laut Rieger durchaus das Ende einer begonnenen Behandlung bedeuten. "Das führt dazu, dass Betroffene, die sich korrekterweise outen, ihre Situation in Zukunft verschweigen; das kann es auch nicht sein." Allein die Frage nach einer HIV-Infektion sieht Rieger als nicht zuträglich für die Sicherheit im Gesundheitssystem: "Eigentlich muss sich jeder Arzt so verhalten, als ob die Infektion bei jedem gegeben wäre. Abgesehen davon geht die größte Ansteckungsgefahr von Patienten mit einer unerkannten HIV-Infektion aus".

"Theoretisches Risikopotenzial"

Sind Mitarbeiter im Gesundheitsbereich durch HIV infizierte Patienten gefährdet? "Das ist ein sehr theoretisches Risikopotenzial", weiß Rieger. Drei Fälle gebe es in der Weltliteratur, wo angenommen wird, dass sich Ärzte an Patienten angesteckt haben. Eine Zahl, die angesichts der hohen Frequenz weltweiter medizinischer Eingriffe immens gering sei: "Über die Straße zu gehen ist riskanter. Deswegen finde ich es auch absurd, dass ein Arbeitgeber über eine HIV-Infektion eines Angestellten informiert werden sollte."

Problematisches Outing

Für HIV-positive Mitarbeiter im Gesundheitsbereich existiert in Österreich keine Meldepflicht. Es gibt offiziell auch keine Einschränkungen, aber durchaus Empfehlungen: "Es ist vermutlich nicht sinnvoll, wenn ein HIV-infizierter Chirurg hochkomplizierte invasive Eingriffe vornimmt", sind sich Rieger und Schalk einig.

Für Letzteren ist mit HIV infiziertes Gesundheitspersonal in Österreich auch deshalb kein Thema, weil es nach rund 25 Jahren AIDS immer noch schwer sei, sich zu outen. "Es muss eine massive Belastung sein, mit einer HIV-Infektion im Gesundheitsbereich tätig zu sein, wo man ständig in direktem Kontakt mit den Patienten steht."

Infektiosität entspricht Alltagsrisiken

Ob HIV-infizierter Patient oder Gesundheitspersonal: Im Jänner 2008 hat die Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen (EKAF) Stellung bezogen: "Eine HIV-infizierte Person ohne andere STD (Anm.: sexuell übertragbare Erkrankungen) unter einer antiretroviralen Therapie mit vollständig supprimierter Virämie ist sexuell nicht infektiös, d.h. sie gibt das HI-Virus über Sexualkontakte nicht weiter, solange folgende Bedingungen erfüllt sind: Die antiretrovirale Therapie wird durch den HIV-infizierten Menschen eingehalten und durch den behandelnden Arzt kontrolliert. Die Viruslast liegt seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze. Es bestehen keine Infektionen mit anderen sexuell übertragbaren Erregern."

Die Infektiosität liegt in einem Bereich, der den Alltagsrisiken entspricht. "Je mehr Patienten im infizierten Kollektiv mit Therapien betreut sind, desto geringer das infektiöse Potenzial, das im Kollektiv vorliegt", blickt Rieger in eine ferne Zukunft ohne HI-Virus. (tin, derStandard.at, 07.04.2011)