Der "Taipei 101 Tower" wurde 2004 als der höchste Wolkenkratzer der Welt eröffnet. "To bring Taipei to the World", wie Bürgermeister Ma Ying-jeou damals erklärte.

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Großer Bruder China: Taiwans Streben nach Unabhängigkeit ist ein Drahtseilakt, den Taiwan mit "flexibler Diplomatie" zu umschiffen versucht.

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Die Lifttüre schließt sich, mit höflichem Nicken tritt die Dame im grauen Kostüm einen Schritt zurück und drückt den obersten Knopf am Schaltbrett. 91 Stockwerke in 39 Sekunden. Dass die Kabine mit Hochgeschwindigkeit nach oben schnellt, ist nur an den Schaltknöpfen der einzelnen Stockwerke erkennbar, die in Sekundenbruchteilen aufleuchten. Den Fahrgästen bleibt gerade genug Zeit, um das freundliche Nicken zu erwidern und leicht fröstelnd die Hand vom verchromten Haltegriff der klimatisierten Kabine zurückzuziehen. Dann öffnet sich die Lifttüre geräuschlos einen halben Kilometer über dem Erdboden.

Der "Taipei 101 Tower" wurde 2004 als der höchste Wolkenkratzer der Welt eröffnet. "To bring Taipei to the World", wie Bürgermeister Ma Ying-jeou damals erklärte. 509 Meter, 91 Stockwerke, die schnellsten Aufzüge der Welt. Ein Symbol für Eigenständigkeit, Fortschritt, Dynamik. Mittlerweile hat Dubai nachgezogen und ein höheres Gebäude aus dem Boden gestampft. Taiwans Suche nach Symbolen bleibt.

Abkühlung aus der Klimaanlage

Weit unten liegt in brütender Hitze die Millionenstadt Taipei. Automassen wälzen sich durch Häuserschluchten, unzählige Motorroller drängen durch die Straßen, dazwischen ein paar wagemutige Radfahrer. Und Menschen, Menschen, Menschen. Mit 630 Einwohnern pro Quadratkilometer zählt Taiwan zu den am dichtesten besiedelten Flecken der Erde. Lärm und Abgase mischen sich mit subtropischen Temperaturen, die hohe Luftfeuchtigkeit raubt die Luft zum Atmen und treibt den Schweiß aus den Poren. Wem die Luft wegbleibt, der rettet sich in das nächste Gebäude – eine Abkühlung ist dort sicher. Denn in Taipei gilt: Alles was vier Wände hat, hat auch eine Klimaanlage.

Alles was vier Wände hat, hat auch eine Klimaanlage. Die konstante Kühlung steigert den Energieverbrauch der Insel, mittels Verordnung hat die Regierung die Kühlung vor einigen Jahren auf unter 16 Grad untersagt.
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Die Klimaanlagen in den westlichen Einkaufstempeln der Innenstadt verströmen fast schon arktische Kälte. An die eleganten Department-Stores im Stadtzentrum reihen sich Hochhäuser im Ostblock-Stil, ein paar Schritte weiter steht ein buddistischer Tempel, daneben eine McDonalds-Filiale. So gegensätzlich sich das Gesicht Taiwans zeigt, so wechselhaft ist auch seine Geschichte.

1544 landeten die Portugiesen als erste westliche Seefahrer auf der Insel und gaben ihr den Namen Ilha Formosa, schöne Insel. Im Laufe der Zeit wechselte Taiwan oft die Besitzer, bis es 1683 Teil des chinesischen Reiches wurde. Aus dem chinesisch-japanischen Krieg 1895 gingen die Japaner als Sieger hervor und errichteten auf Taiwan eine Kolonie. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm wieder China die Macht auf der Insel.

Was danach passiert, bestimmt die politische Gegenwart: 1949 flieht die chinesische Regierung der Kuomintang von Peking nach Taiwan. Von den Kommunisten in einem Bürgerkrieg besiegt, suchen sie Zuflucht auf der letzten, ihnen verbliebenen Provinz – nach eigener Lesart nur vorübergehend, um von hier die Amtsgeschäfte weiterzuführen und weiterhin Anspruch auf die Gesamtvertretung Chinas zu stellen. Für die Volksrepublik China hingegen steht die eigene Souveränität außer Frage, sie betrachtet Taiwan als abtrünnige Provinz – ein Ausdruck der so genannten "Ein-China-Politik", die heute vom überwiegenden Teil der internationalen Staatengemeinschaft, darunter Österreich, vertreten wird.

Ob in kulturellen oder kulinarischen Belangen: In Taiwan bemüht man sich heute bewusst, chinesische Traditionen aufrecht zu erhalten.
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"Made in Taiwan": eine Erfolgsgeschichte

Das Botschaftsviertel in Taipei ist dünn besiedelt. Keine diplomatischen Residenzen oder prunkvollen Villen, sondern Handelsvertretungen in nüchternen Bürobauten prägen das Bild. Bemerkenswert sind allerdings die Mieter der 16. Etage eines Bürogebäudes an der Keelung Road. Hier im Stadtzentrum, nahe der City Hall, unterhält die Europäische Kommission ein Wirtschafts- und Handelsbüro. Denn während sich die VR China erst in den letzten Jahren zum Global Player entwickelt, ist Taiwan wirtschaftlich gesehen eine Erfolgsgeschichte: Von einem Schwellenland entwickelte sich die Insel in 100 Jahren zu einer der zehn größten Exportnationen. Durch billige Arbeitskräfte und exportorientierte Wirtschaftspolitik erreichte das Land bis in die 80er Jahre ein Wirtschaftswunder – in jener Zeit fertigte alle Welt in Taiwan und Taiwan selbst kopierte diese Produkte. "Made in Taiwan" eroberte den Globus. Inzwischen hat Taiwan seinen Platz als "Newly Industrialized Country" gefestigt und Dienstleitungen machen 60 Prozent der taiwanesischen Wirtschaft aus.

Was Taiwan wirtschaftlich interessant macht, ist aber nicht nur die ökonomische Bilanz. Als westlich orientiertes Land, dessen Bevölkerung gleichzeitig fest im chinesischen Kulturraum verankert ist, übt es einen besonderen Reiz auf ausländische Investoren und Unternehmer aus, die im asiatischen Raum Fuß fassen wollen. Denn ohne verlässlichen Partner vor Ort, ohne kulturellen Kompass, der mit Gegebenheiten und Arbeitsweisen vertraut ist, lässt sich wirtschaftlicher Erfolg nur schwer erzielen. Das macht Taiwan zu einem Sprungbrett von West nach Ost.

Stets präsent: die USA

Die Orientierung nach Westen und der wirtschaftliche Erfolg Taiwans beruhen zu einem Gutteil auf dem Einfluss der USA in den vergangenen 50 Jahren. Vor dem Hintergrund eines Überhand zu nehmen drohenden Kommunismus hielten die USA stets ihre schützende Hand über Taiwan, das als "asiatischer Liebling" der Amerikaner galt. Als solcher genoss der Inselstaat finanzielle und militärische Hilfe, aber auch strategische Unterstützung bei der Entwicklung. Der Einfluss des Westens ist im heutigen Taiwan allgegenwärtig: Amerikanische Fast-Food-Ketten und Coffee-Shops beherrschen den leuchtenden Dschungel der Neonschilder, in den sich Taipei bei Nacht verwandelt.
Neben den Amerikanern haben auch die Japaner ihre Spuren hinterlassen. Sie bauten während der Kolonialzeit zunächst die Landwirtschaft, später auch die Industrie auf und haben die Insel umfassend modernisiert – zugleich aber politisch brutal unterdrückt. Wenn heute die japanische Kartoonfigur "Hello Kitty" in Taiwan omni-präsent ist, spricht man in akademischen Kreisen schon mal scherzhaft von "japanischem Kulturimperialismus". – Wobei die taiwanische Fan-Gemeinde das ihre dazu tut, einem solchen Urteil Vorschub zu leisten: Im Vorjahr wurde eine "Hello Kitty"-Geburtsklinik eröffnet, in der neben Mutter und Kind, das gesamte Personal rosa "Hello Kitty"-Tracht trägt.

Osten, Westen. Chinesen, Amerikaner, Japaner – alle haben sie ihre Spuren in Taiwan hinterlassen. Hat Taiwan auch eine eigene kulturelle Identität? Meggie, eine 21-jährigen Studentin aus Taiwan, sieht das so: "Auf jeden Fall haben wir unsere eigene Kultur – auch wenn sie von verschiedenen Einflüssen geprägt wird. Aber vielleicht definiert uns ja gerade das – unsere Offenheit, unser Verständnis für andere Kulturen." In Taiwan bemüht man sich heute jedenfalls bewusst, chinesische Traditionen aufrecht zu erhalten. Und laut Weltreisenden gelingt das zumindest in kulinarischen Belangen: "Die beste Pekingente habe ich in Taipei gegessen." Im Kopieren ist Taiwan eben Meister. (Eva Singer/Juli 2010)