Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit und des Rechtswesens, wird meist mit verbundenen Augen dargestellt. In der einen Hand hält sie üblicherweise eine Waage, in der anderen ein Schwert. Dabei steht die Augenbinde für Unparteilichkeit - dafür, dass Recht ohne Ansehen der Person gesprochen wird. Durch die Waage sollen Fairness und Begründetheit der Entscheidungen zum Ausdruck kommen. Schließlich symbolisiert das Schwert die Gewalt, auf die jede wirksame Rechtsordnung immer auch zurückgreifen können muss.

Im Wiener Justizpalast, Sitz des Obersten Gerichtshofs, trägt Justitia allerdings weder Augenbinde noch Waage, dafür aber ein Gesetzbuch - und ein besonders mächtiges Schwert. Damit stellt sie beinahe eine Stein gewordene Form der Art von Kritik am heimischen Rechtssystem dar, wie sie jüngst an dieser Stelle der Soziologe Bernhard Martin artikuliert hat: Juristen würden sich hierzulande hemmungslos der Staatsmacht anbiedern und dabei am Buchstaben vermeintlich unpolitischer Gesetze kleben, die von einer "neo-absolutistisch" illiberalen, sozialwissenschaftliche Wissensbestände beharrlich ignorierenden Legistik in die Welt gesetzt würden.

Wesentliche Schuld daran trage der Rechtspositivismus Hans Kelsens und sein über allen sozialen Tatsachen schwebendes "Luftschloss einer reinen Sollenswissenschaft". Kelsen verteidigende Juristen haben Martins harscher Polemik vorgeworfen, dessen Werk entweder nicht gelesen zu haben (Thomas Olechowski) oder seinen Einfluss drastisch zu überschätzen (Alfred Noll). Der Soziologe Max Haller wiederum stimmt Martin insofern zu, als dass er die mangelnde Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse bei der Gesetzgebung kritisiert, fühlt sich im übrigen aber nicht berufen, "den Artikel eines Soziologen zu verteidigen, nur weil er von einem Soziologen stammt". Als Rechtssoziologe bin ich der Überzeugung, dass keine der Stellungnahme dem Verhältnis von Rechts- und Sozialwissenschaften wirklich gerecht wird.

Zunächst zu Kelsen: Diesem großen Rechtsgelehrten, auf den Österreich stolz sein kann, wird so manches Unhaltbare vorgeworfen. Bis heute hält sich die längst widerlegte Nachkriegsthese Gustav Radbruchs, der Rechtspositivismus habe die deutschsprachigen Juristen "wehrlos" gegenüber dem Nationalsozialismus gemacht. Das ist nicht nur falsch, sondern angesichts Kelsens Biographie auch geradezu zynisch. Weder in der österreichischen Ersten noch in der Weimarer Republik war der Rechtspositivismus tatsächlich Mainstream unter Rechtsanwendern oder -wissenschaftlern. Deren "unpolitische" Haltung speiste sich vielmehr aus autoritären Quellen.

Indes war es ausgerechnet Kelsen, der völkisch raunende Juristen wie Carl Schmitt an die stets gegebenen Wechselwirkungen von Recht und Politik erinnert und sich als Vordenker der Verfassungsgerichtsbarkeit um eine Vermittlung dieser beiden gesellschaftlichen Sphären bemüht hat. Dabei erkannte er ganz klar die Grenzen und Eigengesetzlichkeiten juristischen Handelns. Systemtheoretische Ansätze haben dies später radikalisiert und in formaler Beschreibungssprache als autopoietische Schließung des Rechtssystems in den Blick genommen. Für die Rechtswissenschaft - und nicht für das Recht schlechthin!- zog Kelsen daraus als erkenntnistheoretische Konsequenz seine Forderung nach "Reinheit". Eine Konsequenz, die ihren Preis hat.

Leider vermag dieses Postulat gerade in Österreich nämlich dazu beizutragen, dass in der Juristenausbildung - und hier ist Martin beizupflichten - das Recht in aller Regel völlig frei von seinen sozialen Bezügen vermittelt wird. Damit verstärkt es Tendenzen, die im juristischen Unterricht bereits historisch vorhanden waren: Man lernte gleich zu Beginn des Studiums das Recht einer antiken Sklavenhaltergesellschaft, als ob es noch heute darum ginge, dem Claudius den Stichus zu verkaufen. Aber kann ein Rechtssystem, und sei es noch so zeitlos ausgefeilt, sich wirklich selbst genügen? Wenn die Lehre vom Recht die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen juristischer Tätigkeit nicht mitbedenkt, läuft sie ganz schnell Gefahr, zur Ideologie im Dienste der jeweils stärksten Interessen zu geraten.

Soziale Konsequenzen

Im Gegensatz zu Alfred Noll meine ich daher, dass die Kelsen'sche Rechtstheorie - oder zumindest ein verkürztes Verständnis der Reinen Rechtslehre - als ideologischer Überbau sehr wohl zum Habitus einer bestimmten Art der österreichischen Rechtspraxis beiträgt, die er selbst in ihrem Ausblenden sozialer und politischer Bezüge zu Recht als defizitär und verlogen beschreibt. Dazu gehört nicht nur eine häufig intellektuell einschläfernde Fachliteratur, sondern auch ein naives Top-Down-Verständnis der Wirkung von Recht, das sich gut in obrigkeitsstaatliche Muster einfügt.

Gerade hier hat die Sozialwissenschaft eine wichtige aufklärende Rolle zu spielen - allerdings auch denen gegenüber, die sich zu viel von ihr erwarten. Wie könnte denn eine Soziologisierung des Rechts ausschauen? Direkt zur Rechtsanwendung vermögen sozialwissenschaftliche Erkenntnisse nur ausnahmsweise beizutragen. Wie Niklas Luhmann scharfsinnig bemerkt hat, können etwa am Einzelfällen arbeitende Richter ja nicht "statistische Sachverhalte wie Regeln behandeln, die bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen sind." Dringend geboten wäre hingegen zum einen eine verstärkte Integration rechtssoziologischer Inhalte in Aus- und Fortbildung - nicht nur an den Universitäten, sondern auch bei den Gerichten.

Zum anderen sollte sozialwissenschaftliche Begleitforschung für eine gute Praxis der Gesetzgebung obligatorisch werden. Eine regelmäßige folgenorientierte Beobachtung der Rechtsanwendung wäre zu etablieren, um sich abzeichnende erwünschte wie unerwünschte soziale Konsequenzen gesetzgeberischen Tuns oder Unterlassens rasch erkennen zu können. In machen Bereichen der österreichischen Legistik findet dies bereits durchaus statt. Dabei zeichnet sich ab, dass erfolgreiche Steuerung durch Recht die Eigenlogik des zu regelnden gesellschaftlichen Bereichs stets im Auge behalten muss.

Dafür ist aber nicht sturer Rechtsvollzug, sondern partizipatives und vernetztes Denken gefragt. (Walter Fuchs, DER STANDARD, Printausgabe, 18.8.2010)