Michael Cobley: "Die Saat der Erde"
Broschiert, 620 Seiten, € 10,30, Heyne 2010.
Mitunter wundert man sich, welche Bücher Klappentext-VerfasserInnen anstelle derjenigen gelesen haben, auf denen sie ihre Zusammenfassungen platzieren. Also: Die Erde wurde nicht durch einen Alien-Angriff zerstört, und die drei entkommenen Kolonieschiffe hatten daher auch nicht die letzten Überlebenden an Bord. Würde irgendwie auch die gesamte Handlung zunichte machen, schließlich dreht sich in Michael Cobleys "Die Saat der Erde" ("Seeds of Earth", Start der Trilogie "Humanity's Fire") alles darum, wie Mutter Erde zu ihren verlorenen Kindern wieder Kontakt aufnimmt. 150 Jahre sind seit der Attacke vergangen und die an Bord des Raumschiffs "Hyperion" Geflohenen haben sich auf dem Planeten Darien und dessen bewaldetem Mond eingerichtet. Sie teilen sich das System mit den eingeborenen Uvovo - was die interessanteste Idee des Romans ist, auch wenn sich manche an die Na'vi aus "Avatar" erinnert fühlen mögen. Denn auch die friedliebenden Uvovo leben in Harmonie mit ihrem dschungelhaften Ökosystem, das über eine Kollektivintelligenz namens Segrana verfügt, die an Gaia (oder Eywa) denken lässt. Doch schlummert tief unter dem Waldboden auch das Erbe einer hochtechnologischen Vergangenheit der Uvovo.
Die Koexistenz zweier so unterschiedlicher Kulturen und die aus der Not geborene Rückbesinnung der Uvovo auf ein Zeitalter des Kampfes bilden einen der Handlungsstränge des Romans. Die beiden ForscherInnen Greg Cameron und Catriona Macreadie befassen sich beruflich mit der Kultur der Uvovo, der Uvovo-Gelehrte Chel unterstützt sie dabei - zumindest solange, bis er abberufen wird, um sich zu verpuppen und in ein neues körperliches und geistiges Stadium einzutreten. Robert Horst, Botschafter der Erde, wird später, ganz zu seiner Überraschung, auch noch zu den Personen gehören, die die stark metaphysisch geprägte Kultur der Uvovo hautnah erleben dürfen. - Das hätte schon Stoff genug für einen Roman abgegeben, doch wirft der Autor noch einiges mehr auf den Haufen. Mit den Gesandten der Erde schwirren nämlich nach und nach auch diverse außerirdische Kolonialmächte in spe ein, die sich für Darien interessieren. Es kommt zu Intrigen, Attentaten - und in Folge dessen zu reichlich Aufklärungs- und Kampfeinsätzen, in denen vor allem der alte Haudegen Theodor Karlsson, Gregs Onkel, so richtig auflebt. Durch die Vielzahl an kapiteltragenden Personen sind 100 Seiten vergangen, bis die erste von ihnen zum zweiten Mal an die Reihe kommen darf. Und kaum wurde das gesamte Ensemble endlich zusammengeführt, da blendet Cobley total um und führt mit Kao Chih eine ganz neue Hauptfigur ein: Letzterer ist der Nachkomme von Passagieren eines Schwesterschiffs der "Hyperion", die inzwischen weit entfernt als Hilfskräfte eines weiteren Alien-Volks schuften. Weil auch dieses von der Wiederentdeckung Dariens gehört hat und seinen Teil vom Kuchen möchte, wird der junge Kao Chih als Botschafter auf die Reise geschickt.
Müsste man "Die Saat der Erde" in einem Satz zusammenfassen, würde er lauten: Weniger wäre mehr gewesen. So hilflos, wie die Bevölkerung Dariens der plötzlichen Info-Flut über ihre kosmische Nachbarschaft ausgesetzt ist, so erbarmungslos geht auch über den Köpfen der LeserInnen ein nicht enden wollendes Trommelfeuer von Namen und Begriffen nieder. Cobleys Galaxis wimmelt nur so vor raumfahrenden Spezies, die zudem allesamt reichlich hölzern wirken. (Aber warum sollte es ihnen auch besser gehen als den Menschen? Die "Hyperion"-KolonistInnen stammen zu gleichen Anteilen aus Russland, Skandinavien und Schottland. Also sagt ständig irgendwer "Aye", und Skandinavien dürfte Cobley, der selbst in Schottland lebt, das letzte Mal besucht haben, als man noch Helme mit Hörnern trug.) Die diversen Aliens leben in Staatsgebilden, die sich bombastisch XY-Hegemonie, YZ-Solidarität, ZX-Synergie oder XYZ-Zyklarchie nennen. Ein bisschen so wie in einer Soap, wo bloß keine zwei Personen denselben Vornamen tragen dürfen ... damit man sie wenigstens irgendwie unterscheiden kann. Und läuft die Soap lange genug, sind alle griffigen Namen halt vergeben und es betreten die Korbinians und Raffaelas die Szene. Dito die Amtsbezeichnungen außerirdischer Potentaten: Was dem einen sein Castigator, ist dem andern sein Compositor, Estimator oder Oberarbogator. Menschen über 30 mögen sich dabei an einen der "Otto"-Filme erinnert fühlen ("Amboss! Amboss!"). Insgesamt verbreitet das Wording den klobigen Charme der 60er Jahre, was durch eine sperrige Sprache wie Deutsch auch nicht eleganter wird. Ist "getunt", im Roman ein Synonym für genmanipuliert, wirklich die eingedeutschte Variante von "tuned"? Der Satz "Catriona war eine gescheiterte Getunte" hat's jedenfalls in sich.
Pseudo-Techno-Babbel à la querfraktulierte Schutzschirme (???) kennt man auch von "Star Trek" & Co - hier erfüllt er aber eine weitere Funktion: Nämlich zu verschleiern, dass "Humanity's Fire", Weltraum hin oder her, als Space Opera durchgehen kann, genauso sehr aber auch der Fantasy zuzurechnen ist - also dem Genre, aus dem Cobley eigentlich kommt. Und das betrifft gar nicht allein die schon an der Oberfläche sichtbaren Handlungselemente wie die zahlreichen rational nicht erklärbaren (und auch nicht zu erklären versuchten) Fähigkeiten der Uvovo, ihre mythisch verbrämten Erzählungen von einem zigtausende Jahre zurückliegenden Krieg oder das metaphysische Wirken des Waldgeists Segrana. Auch der Plot-Aufbau selbst hat viel mit Fantasy-Trilogien gemeinsam: Da wäre die Bedrohung aus ferner Vergangenheit, die sich nun wieder regt, was die Uvovo in den tieferen Sphären des Hyperraums - oder auch den Unterreichen der Wirklichkeit - spüren. Da wäre das mächtige Artefakt, das einst unter einem Tempel verborgen wurde, und das als einziges Mittel den Feind aufhalten kann. Da wäre die Berufung einiger Auserwählter durch übernatürliche Mächte. Und da ist das Gut-Böse-Schema mit Künstlichen Intelligenzen als Schurken: Die KIs der Romangegenwart wurden zwar von völlig anderen Zivilisationen hervorgebracht als ihre zerstörerischen Pendants vor 100.000 Jahren - aber über irgendeinen im Hyperraum angesiedelten Zusammenhang scheint die Existenzform KI - von den Uvovo Traumlose genannt - per se eine heimtückische Macht zu sein.
Mit Blick auf die Mainstream-Fantasy unserer Tage und etwas Polemik könnte man meinen, dass Cobley noch zwei weitere ihrer Charakteristika ins neue Genre übertragen hat: Erstens den Déjà-vu-Effekt, dass man glaubt, das alles schon mal bei jemand anderem gelesen zu haben. Zweitens und vor allem aber die LÄNGE. 640 Seiten ist "Die Saat der Erde" lang und kommt danach - weil von Anfang an als Teil einer Trilogie angelegt - nicht mal ansatzweise zu einem Abschluss. Wie der Umfang zustande kommt, ist leicht nachzuvollziehen: Cobley schildert jede Teilepisode Länge mal Breite, kombiniert stets mit oben erwähnter Überfrachtung von Namen und Begriffen, die dem Geschehen wohl räumliche und historische Tiefe verleihen sollen. Bestes Beispiel ist Kao Chihs Odyssee von seiner Heimat nach Darien. In für die Rahmenhandlung völlig bedeutungslosen Episoden wird Kao Chih wie ein Wanderpokal zwischen Kriminellen, Revolutionären und religiösen Fanatikern weitergereicht. Kein Problem, wenn "Die Saat der Erde" Kao Chihs Roman wäre - doch lässt man sich auf eine Figur, die ihren ersten Auftritt erst nach 160(!) Seiten hat, wirklich noch so geduldig ein, als wäre sie von Anfang an die Hauptfigur gewesen? Oder denkt man nicht eher: Junge, komm mal langsam in die Hufe - du solltest längst auf Darien sein, dort spielt die Musik.
Natürlich haben auch ausufernde Weltraum-Geschichten ihre Fans - siehe Iain Banks oder Peter F. Hamilton. Bloß hat Banks mehr Witz (und zwar gewollten), und Hamilton ist ein weit besserer Erzähler. Bei Cobley hingegen geht auch hier die Info-Keule nieder. Wenn Erd-Botschafter Robert Horst wehmütig an seine Tochter zurückdenkt, bleibt nichts vorerst ungesagt, kein Freiraum, in dem der Leser seine Fantasie spielen lassen könnte, was denn wohl passiert sein mag, kein behutsamer Aufbau einer Stimmung, die uns fesselt und erst später durch Erklärungen ergänzt wird. Stattdessen wird - als hätten wir den Text-Link "Rosa Horst" angeklickt - sofort die Hintergrundgeschichte vom tochterlichen Tod abgespult; auch hier wieder mit zahlreichen Begriffen aus der Cobleypedia garniert. - "Die Saat der Erde" ist der richtige Roman für alle, die sich gerne zudröhnen lassen. Es passiert dauernd was - aber ist es auch wichtig? Wem Teil 1 dieses Satzes vollkommen ausreicht, der kann sich den Jänner 2011 vormerken: Dann geht Cobley mit "Waisen des Alls" in die zweite lange Kreisbahn.