Preisfrage: Welche zwei Eigenschaften teilen obige Fantasyromane? 1) Sie alle brachten auf ganz unterschiedliche Weise ein Element der Originalität ins Genre ein. 2) Sie alle sind die deutschsprachigen Endpunkte von Reihen, deren weitere Teile nicht mehr übersetzt wurden.
In seiner aktuellen Besprechung von Peter S. Beagles Anthologie "The Secret History of Fantasy" geht der angesehene Phantastik-Rezensent Paul Kincaid recht streng mit einem Werk um, das der eigentlich lobenswerten Aufgabe gewidmet ist, Genre-Klischees entgegenzuwirken und aufzuzeigen, welche inhaltliche Vielfalt unter dem Schlagwort "Fantasy" möglich wäre. Mission nicht erfüllt, so lautet in etwa Kincaids Resümee. Und zeigt damit einmal mehr auf, auf welchem Niveau sich eine Diskussion über das gerne geschmähte Genre Fantasy bewegen könnte, wenn man sich erst mal von den zwei schlimmsten Stereotypen "Zwergenschwertgeschwinge und Vampirgeknutsche" gelöst hat (so hat's ein Mitarbeiter eines großen deutschen Phantastik-Verlags mir gegenüber ausgedrückt, und ich hätte keinen besseren Begriff für das finden können, was alles inhaltlich anders Geartete in den Phantastikregalen der Buchhandlungen an den Rand gedrückt hat).
Die Knutschsauger als legitime Erben von Bergdoktoren und Traumschiffstewards mal außer Acht gelassen und mit dem schröcklichen Begriff "Romantasy" ohnehin bereits quasi-offiziell abgegrenzt, wird Fantasy im deutschsprachigen Raum gerne mit High Fantasy und Heroic Fantasy gleichgesetzt. Was schade ist, weil es die inhaltliche Bandbreite extrem reduziert. Und denen in die Karten spielt, die "Fantasy" als Schimpfwort verwenden (ohne jemals auf die Idee zu kommen, dass auch "Star Wars" Fantasy ist). Schnell ist da auch das Totschlag-Argument vom Tolkien-Epigonentum zur Hand, was zahl- und fantasielose AutorInnen mit ihren "Völkerromanen" zugegebenermaßen auch selbst befeuern. Dabei wäre es gar keine so schlechte Strategie Tolkien nachzuahmen - nur läge der Schlüssel vielleicht nicht darin, seine Ideen zu übernehmen, sondern sein Konzept Ideen zu haben. Was immer noch nicht heißt, dass neue Ideen automatisch zu einem rauschenden Leseerlebnis führen müssen. Robin Hobbs "Nevare"-Reihe hatte einen sehr originellen Zugang zum altbekannten Coming-of-Age-Plot ... bloß sind mir beim Lesen vor Langeweile die Füße eingeschlafen (ich habe zwei Zehen an Robin Hobb verloren!). Aber mit dem Risiko muss schließlich jedes Buch leben, egal aus welchem Genre. Und es gibt ja auch nichts, was einen Roman vor dem doppelten Übel schützen könnte, unoriginell und langweilig zu sein.
AutorInnen machen sich allerdings auch nicht zwangsläufig beliebt, wenn sie Ideen einbringen, die noch nicht vielhundertfach abgesichert wurden. Fallbeispiel "Glühender Stahl" von Richard Morgan, ein Action-lastiges Stück Heroic Fantasy mit allem Drum und Dran inklusive altbewährten Handlungsmustern. Bloß ist die Hauptfigur schwul. Und nicht etwa nur per Mitgliedskarte, er lebt es auch aus, sprich: hat Sex. Schockschwerenot. Da gibt es dann Leute, die sich allen Ernstes öffentlich darüber empören, dass sie in Umschlag- und Klappentext nicht vorgewarnt wurden, mit so etwas konfrontiert zu werden. Naja, auf Seite 11 trägt selbiger Held ein Lederwams, auf Seite 72 isst er ein Stück Fleisch - spätestens hier schiene auch ein Warnhinweis für VeganerInnen zwingend notwendig. Vielleicht sollte man generell Bücher mit einem Aufkleber versehen: "Vorsicht! Dieses Objekt könnte neue Ideen beinhalten. Bitte bleiben Sie auf zwei Armlängen Abstand."
So ein System würde auch deshalb Sinn machen, weil bei weitem nicht jedes Buch auf diese Weise gebrandmarkt werden müsste. Nehmen wir Alexey Pehovs "Chroniken von Siala", die diesen Frühling in die dritte Runde gehen und deren erster Teil, "Schattenwanderer," in den Kaufseitenforen durch die Bank gelobt wurde - unter anderem, weil hier mit althergebrachten Vorstellungen aufgeräumt würde. Ich habe "Schattenwanderer" gelesen und kann seine Originalität bestätigen: Die Zwerge haben hier keine Bärte - so unterscheidet man sie nämlich von den Gnomen. Bescheidenheit ist eine lobenswerte Eigenschaft, aber hier hat sich eine Spirale der Anspruchssenkung in Gang gesetzt, die beiderseits - von LeserInnen wie Verlagen - angeschubst wird und allmählich das Gefühl für Verhältnismäßigkeit entschwinden lässt. Wobei den Verlagen bei genauerer Betrachtung nicht der Hauptteil der Verantwortung anzulasten ist. Das sind Wirtschaftsunternehmen, und die verkaufen eben, was sich verkaufen lässt. Obige Beispiele und wagemutige Experimente von Kleinverlagen zeigen, dass man's zumindest immer wieder mal versucht - finden sich nicht genug KäuferInnen, kann man halt nüscht machen.
Auch nicht zu vernachlässigen: der Faktor Quantität. Ich muss zugeben, dass meine Hemmschwelle vor einem neuen Buch ziemlich genau mit dessen Seitenzahl korreliert. Wenn ich ein Buch angehe, bei dem ich von vorneherein weiß, dass seine Handlung trotz "Buddenbrooks"-artigen Umfangs nicht zum Abschluss gebracht wird, braucht's schon einen gut begründeten Anreiz, das durchaus zeitaufwändige Projekt überhaupt zu starten. Als Brandon Sanderson 2005 "Elantris" veröffentlichte, konnte sich kaum ein Rezensent einen Ausdruck der Verwunderung darüber verkneifen, dass hier mal ein Fantasy-Autor einen Einzelroman geschrieben hat - in einem Genre, in dem Trilogien oder besser Nochmehrteilogien längst obligatorisch geworden sind. Schön, Verlage möchten Erfolgsformeln gerne wiederholt angewendet sehen, und LeserInnen werden eine liebgewonnene Welt - siehe das Format TV-Serie - gerne wieder und immer wieder besuchen. Aber warum muss jeder einzelne Teil davon auch noch Überlänge haben? Hängt die angestrebte "epische Wirkung" wirklich so sehr von der Quantität ab - oder braucht es womöglich eine immer größere Seitenzahl, bis eine "neue" fiktive Welt so fest in den Köpfen der LeserInnen etabliert ist, dass etwaige Erinnerungen an ältere - und teils verblüffend ähnliche - Welten endlich erfolgreich verwischt werden konnten?
Inzwischen dürfte es den einen oder anderen Fantasy-Fan schon in den Fingern jucken, aber bevor jemand seine Tastatur vandalisiert, möchte ich an dieser Stelle einbauen, dass ich gerne Fantasy lese. Auch High Fantasy und Heroic Fantasy. Ich habe nur nicht das Bedürfnis, einander ähnelnde Plots mit leidlich geänderten Namen zweimal, dreimal, viermal zu lesen. Jedenfalls nicht in kurzen Abständen hintereinander. Kurze Gegenprobe aus der Science Fiction: Hier wird auch nicht jeden Monat ein Buch vorgestellt, in dem die reptilischen Klerrgh oder insektoiden Tzzzeh oder polypenartigen Qwemmsh aus dem Weltraum eine Invasion der Erde starten - ein Plot, der durchaus vergleichbar wäre mit einem Teenager (nennen wir ihn Ged oder Harry Potter oder Luke Skywalker), der seine magische Begabung entdeckt und damit das Abendland rettet, oder einer wie auch immer gearteten (aber auf jeden Fall dunklen) Bedrohung, die aus dem tausendjährigen Urlaub zurückkehrt. Alle drei sind respektable Plots - aber wie jeder andere auch nutzen sie sich bei zu häufigem Gebrauch ab und benötigen etwas Zeit, bis man sich - oder zumindest ich mich - ihnen wieder widmen will. Hier setzt mit Sicherheit erneut der Fingerjuckreiz ein, diesmal um alle möglichen Gegenbeispiele zu posten. Natürlich gibt's die und nur zu, her damit! Lesetipps kann es nie genug geben.
Womit wir uns einem entscheidenden Punkt angenähert haben, nämlich der Frage, wie man ein potenziell lohnendes Buch identifiziert. Vor dem Hintergrund der oben genannten Seitenzahl-Hemmschwelle ist es nicht sonderlich hilfreich, wenn ich Verlagsprogramme der kommenden Saison durchblättere und dabei auf die obligatorischen Hinweise à la "Für Fans von Trudi Canavan" oder "Für Fans von Robert Jordan" stoße. Generell scheinen diese Hinweise eher darauf angelegt zu sein, Gemeinsamkeiten mit bereits bekannten Werken zu betonen, als das hervorzuheben, was der Neuerscheinung ihren individuellen Charakter verleiht. Wer solche Kataloge noch nie zu Gesicht bekommen hat, kann den Effekt durch das Lesen von Klappentexten nachvollziehen. Die sind oft noch stärker bemüht, jede Abweichung vom Formelhaften zu nivellieren, und werden dem Buch damit im schlimmsten Fall nicht einmal gerecht. Terry Pratchett hat es einmal angesichts der Flut von Fantasy-Titeln auf einer Buchmesse sehr schön auf den Punkt gebracht: "Es waren auch gute Bücher darunter, aber wie sollte man sie erkennen?" Oder in den Worten der alten Phantastik-Expertin Tina Turner: "We don't need another hero!"
Die folgenden zwei Seiten zeigen zwei Auswege aus dem Dilemma, die abseits von Glückstreffern immer gangbar sind. Weg 1 - mögen ihn manche auch für unoriginell halten - ist die (Wieder-)Vorstellung eines Werks, das seine Qualität bereits unter Beweis gestellt hat und anlässlich einer Neuausgabe noch einmal empfohlen werden kann. Damit endet dieses Intermezzo und es geht weiter mit der nächsten Buchvorstellung.