"Grenzgenial" oder "braucht kein Mensch":
Postings polarisieren

Foto: derStandard.at

Früher (im Paläozoikum) gab es Leserbriefe. Heute gibt es Postings. Der Unterschied besteht darin, dass ein Posting viel schneller und unkontrollierter erscheint als ein Brief. Einmal vom Leser/User her ist es viel leichter, ein Posting abzufeuern, als einen Leserbrief zu verfassen und auf die Post zu tragen. Vom Medium her: Für Briefe brauchte man eine bewusste Entscheidung - erscheinen lassen oder nicht erscheinen lassen. Obwohl es auch bei Postings Filter gibt - Redakteure und eine auf Schlüsselbegriffe geeichte Software - gehen Postings einfach leichter online. Teils aus technischen Gründen (die schiere Anzahl), teils, weil Postings spontaner verfasst werden, teils, weil man heute mehr Wert auf eine offene, freie Debatte legt. Der allergrößte Teil schreibt anonym.

Das schafft manchmal Probleme. Der Ton vieler Postings stört manche Leser/User (und Journalisten). Da ist was dran. Es gibt so etwas wie eine Debatte über das Posting-Wesen. Deshalb hier einige Erfahrungen und Überlegungen zu Postern und Postings.

Wertvolle Orientierungshilfe

Zugriffszahlen und Postings sind eine wertvolle Orientierungshilfe für Journalisten (Online wie Print), wenn man sich einige Grundlagen vor Augen hält.

In jeder Population sind ein paar Prozent verhaltensoriginell bis verhaltensgestört. Das drückte sich früher auch in den Leserbriefen aus; in jeder europäischen Wahlbevölkerung sind überdies 10-15 Prozent in unterschiedlichem Grad rechtsextrem eingestellt. Diese - einander überschneidenden - Gruppen sind vermutlich in den Internet-Foren überrepräsentiert. Ähnliches gilt von "anti-imperialistischen" Verschwörungstheoretikern etc.
Nicht wenige "Nicks" kehren - wie früher bei Leserbriefschreibern auch - immer wieder. Es gibt liebe und weniger liebe Stammkunden. "Kampfposter", vor allem aus Parteien, sind auch nicht selten.

Was die Leute interessiert

Dennoch besteht die überwiegende Anzahl der Poster aus überdurchschnittlich interessierten, aufgeklärten Bürgern, analog der Leserstruktur bei STANDARD und derStandard.at. Mit etwas Übung und Zeitaufwand stößt man bei "durchscannen" der Postings auf journalistisch interessante und relevante Erkenntnisse. Zum Beispiel darüber, was die Leute interessiert. Die Zugriffs- und Posting-Statistik von derStandard.at bringt teilweise überraschende Ergebnisse: die Raucher-, aber auch die Hundethematik hatte und hat Spitzenwerte. Warum auch nicht, es handelt sich um relevante Themen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. (Wirtschafts-) Politik hat einen sehr hohen Stellenwert, beim STANDARD vor allem die Themen "gegen rechts", "Integration und Asyl", "Verteilungsgerechtigkeit", "Arbeitsmarkt", "Finanzwelt" usw.

Durchargumentierte Statements und Recherche-Zund

Viele Poster geben durchargumentierte, mit Zahlen und Fakten unterlegte Statements ab. Viele verlinken zu interessanten Websites. Eine Minderheit liefert sogar Recherche-Zunds, denen man besser nachgeht. Diese Hinweise würden wegfallen, sollte man - was manchmal diskutiert wird - die Anonymität aufheben.

Wachsende Rüpelhaftigkeit

Andererseits: nicht wenige Poster werden gegenüber Autoren und/oder dritten Personen ganz schön aggressiv, manchmal auf üble Weise persönlich. Die wachsende Rüpelhaftigkeit, die man auch sonst im Alltagsleben feststellt, wird oft mit dem "Argument" der freien Meinungsäußerung verkleidet. Das wird von manchen schwer ausgehalten. Umgekehrt beschweren sich etliche Poster über "Zensur", wenn sie rassistische, beleidigende oder vom Verbotsgesetz bedrohte Stellungnahmen abgeben und die nicht freigeschaltet werden. Andere, vielleicht die meisten, sind sich nicht im Klaren darüber, dass das Medium, aber auch sie selbst für Leseräußerungen mit klagbarem Inhalt zur Rechenschaft gezogen werden können. Die Anonymität ist ein starker, aber nicht absoluter Schutz.

Neue Interaktivität zwischen Journalist und Leser/User

Eine Möglichkeit, als Journalist damit umzugehen, ist, selbst auf im Ton überzogene, gerade noch tolerierbare Postings zu antworten, notfalls mit angemessener Härte. Viele Poster sind dann angenehm überrascht ("hätte nie gedacht, dass Sie antworten werden"). Das ist eine neue Interaktivität zwischen Journalist und Leser/User.

Man muss also als Medium den - für manche ungewohnten - scharfen Debattenton in den Foren gegen eine drohende Verödung abwägen. Nicht nur die Rüpel, sondern auch die intelligenten Poster werden es sich zweimal überlegen, wenn sie sich relativ umständlich registrieren müssten. Die Spontaneität ginge weitgehend verloren, die "Posting-Profis" würden dominieren.

Die "STANDARD-Community", Print und Online, ist tatsächlich etwas Besonderes. Dumpfes Vorsichhinschimpfen wie in den Foren der Massenzeitungen und zum Teil des ORF ist viel seltener als intelligente, oft witzige Einwürfe.

Optimierung der Kontrolle

Was man tun könnte, ist eine Optimierung der Kontrolle. Das bedeutet für die Journalisten mehr Zeit und Aufmerksamkeit für die Foren, um durchgerutsche Regelverstöße rasch zu entdecken. Die Software muss immer neu justiert werden.

Abschließend eine persönliche Anmerkung: als Journalist mit langer Erfahrung bin ich problematische Leserreaktion gewohnt. Frage nicht, was da zur Waldheim- und Haider-Zeit auch an Leserbriefen daherkam (meist nicht anonym). Man konnte aber aussieben. Das geht mit Postings nicht so leicht, aber unterm Strich ist die Diskussion per Posting viel unmittelbarer, umfangreicher und lebendiger. Die unleugbaren unangenehmen Nebenerscheinungen kann/muss man besser eindämmen. (Hans Rauscher/derStandard.at/Oktober 2010)