Aus bürgerrechtlicher Sicht lautet die Ausgangsfrage: Stellt jede Erhebung von Daten durch den Staat eine Verletzung der Bürgerrechte dar? Falls ja, fragt sich, ob ein Staat ohne Datenerhebung (Meldewesen, Wahlregister, Führerschein, Steuern, Sozialversicherung, ...) überhaupt funktionieren kann. Falls nein, braucht es logischerweise eine Klärung der Frage, welche Daten ein Staat erheben darf und welche nicht. Wo endet die für die Staatsaufgaben nötige Datensammlung und wo beginnt diese die Bürgerrechte zu beschneiden? An welcher Grenze wird der Service-Staat zum Überwachungsstaat?

Hier braucht es ein erstes Kriterium, welche Kategorie von Daten dem Service und welche der Überwachung dienen. Davon ist in der Nominierungsschrift des Big Brother Award nichts zu finden. Deshalb haben wir geraten: Das Erheben von Daten, die z. B. das Bürgerrecht „Wählen" anbetrifft, ist legitim; das Erheben von Daten, die z. B. die Bürgerpflicht „Steuern zahlen" betreffen, ist nicht legitim. Das ist eine reine Mutmaßung, weil die Nominierungsschrift keine Kriterien enthält.

Auf Basis dieser Mutmaßung fragen wir weiter: Ist das Erheben steuerrelevanter privater Daten grundsätzlich abzulehnen oder nur bis zu einer gewissen Grenze? Gibt es steuerrelevante Daten, die erhoben werden sollen und andere, von deren Gewinnung Abstand genommen werden sollte, weil bei ihnen der Datenschutz die Steuerpflicht sticht? Was wäre das unterscheidende Kriterium? Eigentlich sollten diese Argumentationslinien von den PreisverleiherInnen erarbeitet und die Nominierten an ihnen gemessen werden, was leider nicht der Fall ist. Da sowohl die Bürgerrechts- als auch die Steuerfrage Schlüsselfragen der Demokratie und für uns zentral sind, erledigen wir das aber gerne für das BBA-Team.

Damit zum strittigen Kernpunkt: dem Datenschutz bei Finanzeinkommen. Ist die Erhebung steuerrelevanter Daten im Falle von Finanzeinkommen legitim oder verletzt unsere Forderung nach Aufhebung des Bankgeheimnisses gegenüber dem Finanzamt die Bürgerrechte? Aus der Sicht von Attac gibt es eine große Zahl steuerrelevanter Daten. Grundsätzlich können sie alle an das Finanzamt gemeldet werden (Vorrang der Steuerpflicht) oder vor diesem geschützt (Vorrang des Datenschutzes). Die sicher mit Abstand größte Menge steuerrelevanter Privatdaten sind Löhne und Gehälter. Diese werden heute vollautomatisch dem Finanzamt gemeldet und auch noch an die Sozialversicherung weitergeleitet. Es gibt null Datenschutz, volle Transparenz und den freien Blick des Finanzministers ins „ökonomische Schlafzimmer" der arbeitenden Bevölkerung. Im Unterschied dazu werden Finanzeinkommen mit Hinweis auf den Datenschutz weder dem Finanzamt noch der Sozialversicherung gemeldet, was drei einschneidende Folgen hat:

  • 90 Prozent der steuerpflichtigen und nicht quellenbesteuerten Kapitaleinkommen (z. B. Kursgewinne) werden nicht deklariert und bleiben damit steuerfrei;
  • Quellenbesteuerte Kapitaleinkommen werden nur halb so hoch besteuert wie Arbeitseinkommen (aufgrund des Bankgeheimnisses: um nicht „präventiv" den Spitzensteuersatz auf alle anwenden zu müssen);
  • Kapitaleinkommen sind nicht sozialversicherungspflichtig (auch, weil sie geheim sind), obwohl ihr Anteil am Volkseinkommen auf Kosten der Arbeitseinkommen kontinuierlich steigt, was zu den (unnötigen) Finanzierungsproblemen der Sozialversicherung (in einer immer reicher werdenden Volkswirtschaft) führt.

Attac fragt: Wie lösen wir diese Ungleichbehandlung? Möglichkeit eins: Wir passen die Behandlung der Arbeitseinkommen der Behandlung der Kapitaleinkommen an und weiten den Datenschutz auf Löhne und Gehälter aus. Wenn wir auf diese Weise analog zum Finanzeinkommensgeheimnis auch ein Lohn- und Gehaltgeheimnis schaffen und die Weitergabe dieser Daten durch die ArbeitgeberInnen unter Strafe stellen (was zur Folge hätte, dass ein Finanzamt, das solche Daten aufkauft oder annimmt, sich dem empörten Vorwurf der „Hehlerei" ausgesetzt sähe), dann würde vermutlich auch das Lohnsteueraufkommen um 90 Prozent zurückgehen. Dies scheint uns nicht der klügste Weg zu sein, auch wenn es den Datenschutz stärken würde.

Möglichkeit zwei ist die umgekehrte Lösung: Wir weiten die automatische Meldung auf die steuerrelevanten Kapitaleinkommen aus, damit die oben genannten Ungerechtigkeiten - keine geringen! - behoben werden können. Attac fordert dies seit seiner Gründung vor zehn Jahren und wird nun dafür für den Big Brother Award nominiert. Nun denn.

In der EU halten nur noch zwei von 27 Mitgliedstaaten am Bankgeheimnis gegenüber dem Finanzamt fest: Österreich und Luxemburg. 25 Mitgliedstaaten haben befunden, dass private Daten ausreichend geschützt sind, wenn sie gegenüber Verwandten, Nachbarn, ArbeitgeberInnen, Politik und Medien geheim bleiben. Das Bankgeheimnis führt dazu, dass rund ein Drittel des globalen Millionärsvermögens von 40 Billionen US-Dollar in Steueroasen wie der Schweiz oder Österreich versteckt wird, was zu einem jährlichen Steuerausfall von geschätzten 500 bis 1000 Milliarden US-Dollar in den Herkunftsländern führt. So macht das Bankgeheimnis aus gleichen Bürgern ungleiche: Die Reichen (die von Kapitaleinkommen leben) können sich ihrer Staatsbürgerpflicht im Unterschied zu den Armen (die von Arbeitseinkommen leben) erfolgreich entziehen. Der einseitige „Datenschutz" schützt somit die Starken und schadet den Schwachen doppelt: Ihre Einkommen genießen keinerlei Datenschutz, weshalb sie darauf a) umso höhere Steuern und Abgaben leisten müssen und b) wichtige öffentliche Leistungen gar nicht erbracht werden können, was erneut die Armen am härtesten trifft: Bildung, Gesundheit, Pflege, öffentlicher Verkehr, soziale Sicherheit.

Fazit: Das Bankgeheimnis schützt die Bürgerrechte nicht, es gefährdet sie.

In der Allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 steht in Artikel 13: „Für die Unterhaltung der öffentlichen Gewalt und für die Verwaltungsausgaben ist eine allgemeine Abgabe unerlässlich; sie muss auf alle Bürger, nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten, gleichmäßig verteilt werden". Das Bankgeheimnis ist der zentrale Grund dafür, dass die Steuerlast nicht auf alle Bürger nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten verteilt ist. Auch deshalb gefährdet es die Bürgerrechte.

Bewerbung für BBA 2011

PS: Bei dieser Gelegenheit möchten wir auch gleich unsere Bewerbung für den BBA 2011 einreichen: Attac setzt sich für die Offenlegung der Finanzgeber und Finanzflüsse der Lobbyisten in Brüssel ein, um zu erfahren, wer wen mit welcher Absicht bezahlt, um EU-Politik zu beeinflussen. Auch das ist ein schwerwiegender Eingriff in den persönlichen Datenschutz. Wir hoffen, dass die Jury dieses Argument bei ihrer Nominierung im nächsten Jahr berücksichtigen wird - oder zumindest eine Argumentationslinie transparent macht.