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Die Anschläge auf die Twin Towers am 11. Sept. 2001 als Symbol einer ungewissen Welt: Mit dem Ende des Kalten Krieges, den überhitzten Blasenkonjunkturen auf den Finanzmärkten, den nach 9/11 in Gang gesetzten Kriegen und der Infragestellung der USA als alleiniger Weltmacht, ist eine neue politische Lage entstanden.

Foto: AP/Marty Lederhandler

Ich frage mich, warum in vielen Ländern die Debatte über die Knappheit an Mitteln jene Bereiche trifft, die für die Wissensgesellschaft zentral sind - nämlich Bildung, Kultur, Wissenschaft und Universitäten.

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Ich frage mich, wie wir heute in Österreich und in der Europäischen Union dastehen würden, hätte es weder ein New Yorker 9/11 noch den Börsencrash von 2008 gegeben. Ich frage mich, wie Politik, Kultur und Wissenschaft auf die spannenden Herausforderungen des 21. Jahrhunderts reagieren würden, wären sie nicht unter dem Druck knapper Kassen und anwachsender Staatsschulden. Ich frage mich, warum in vielen Ländern die Debatte über die Knappheit an Mitteln vor allem jene Bereiche trifft, die für unsere Wissensgesellschaft zentral sind - nämlich Bildung, Kultur, Wissenschaft und Universitäten. Und ich frage mich, warum man zwar die Verursacher der größten Wirtschaftskrise seit den 1930er-Jahren schont, aber Investitionen für die Jugend und für die gesellschaftliche Zukunft scheut.

Als das Wiener IFK im Sommer 2008 seinen neuen Forschungsschwerpunkt "Verlorene Gewissheiten - Lebenswelten und Wissen im Übergang" konzipierte, konnten wir nicht wissen, welche Aktualität das Thema im Gefolge des Kollapses der Lehman Brothers gewinnen würde. Und wir konnten auch nicht erahnen, dass mit dem Fallschirm für Börsen und Banken eine neue Phase der Globalisierung angestoßen wurde. Globalisierung bedeutet nun nicht nur eine beschleunigte Zirkulation von Kapital, Menschen, Wissen und Gütern. Globalisierung bedeutet nun nicht nur die Herausbildung einer weltumspannenden Konsum- und Medienwelt, in der Marken und Pop-Stars, Billigprodukte und die forcierte Arbeitsteilung zwischen einem reichen Norden und peripheren Billiglohnländern die Lebenswelten der Menschen prägen.

Eine eigene Dynamik

Globalisierung bedeutet nun auch die tendenzielle Umkehr von politischen Hierarchien, das Aufkommen mächtiger politischer Akteure des globalen Südens wie Brasilien oder des pazifischen Raums wie China und Singapur oder des euroasiatischen Raums wie Russland. Dies alles hatte schon in den Jahren vor der Krise seinen Anlauf genommen und unter dem Namen der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) eine eigene Dynamik und ein eigenes Profil angezeigt. Was mit und nach dem Wallstreet-Desaster deutlich wurde, sind seismografische Verwerfungen mit unabsehbaren Folgen. Die USA sind nicht nur in einen aufwändigen und langwierigen militärischen Konflikt mit der islamischen Welt in Afghanistan und seinen umliegenden Regionen verwickelt, sondern befinden sich auch in einer wirtschaftlichen Stagnationsphase gekennzeichnet durch hohe Staatsverschuldung, Entindustrialisierung, Arbeitslosigkeit, Erosion seiner Mittelschichten und der Verstetigung von sogenannten "Working Poor" -Bevölkerungsgruppen. Das Nebeneinander von Reich und Arm ist nicht länger Merkmal der Metropolen in Afrika, Asien und Lateinamerika - zunehmend prägt diese Spaltung auch die Großstädte der USA und Europas.

Mehr denn je ist die Welt ökonomisch und kulturell eins geworden, eins in ihren Krisen und sozialen Ungleichheiten, aber auch eins im Nebeneinander vieler Kulturen, die einander ebenso befruchten wie befremden. Die euroatlantische Moderne, die seit dem 19. Jahrhundert eine unangefochtene Hegemonie trotz Wirtschaftskrisen und Weltkriegen behaupten konnte, ist mittlerweile infrage gestellt. Mit dem Ende des Kalten Krieges, dem Aufschwung neuer Wirtschaftsmächte an der vormaligen "Peripherie" , den überhitzten Blasenkonjunkturen auf den Finanz- und Konsummärkten, den nach 9/11 in Gang gesetzten asymmetrischen Kriegen, der unvollendeten Architektur der Europäischen Union und der Infragestellung der USA als alleinige Weltmacht, ist eine neue politische Lage entstanden. Eine politische Lage, die sowohl von verlorenen Gewissheiten als auch neuen Chancen charakterisiert ist und ein Umdenken nicht nur der Staatsführungen, der Institutionen und Parteien, sondern auch der Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenswelten und sozialen Lagen erfordert. All dies passiert im Rahmen neuer Raum-Zeit-Skalen, denn eine durch Hochtechnologie vernetzte Welt basiert auf schnellen Entscheidungen und unvollständigen Informationen. Nicht alles, was man für eine rationale Wahl braucht, steht zu jenem Zeitpunkt zur Verfügung, zu dem "for good or worse" entschieden werden muss.

Schnelle Entscheidungen

Verloren sind somit nicht nur die "Gewissheiten" , die uns der Käfig des Kalten Krieges vermittelt und im Westen ein beispielloses Wirtschaftswachstum ermöglicht hat. Verloren sind auch die Gewissheiten des Konsum-Individualismus, der im Gefolge von Pop-Kultur und einem breit gestreuten Masseneinkommen entstanden ist. Verloren ist auch die Gewissheit der jungen Generationen, dass sie das Einkommensniveau und die sozialen Sicherungsnetze ihrer Eltern und Großeltern erreichen und die Leistungen des Wohlfahrtsstaates in Anspruch nehmen können. Und verloren ist das Vertrauen der politischen Eliten, die Unwägbarkeiten einer Welt-Risikogesellschaft erfolgreich steuern und mittelfristig die Geschicke ihrer Staaten rational lenken zu können. Vielmehr gilt eine Logik der Ad-hoc-Reaktionen, und die staatstragenden Parteien des Westens agieren mitunter wie im Roman Der Leopard des Fürsten von Lampedusa, wo es sinngemäß heißt, dass sich alles ändern muss, damit alles beim Alten bleiben kann.

Die neue Unübersichtlichkeit des sozialen und politischen Geschehens, die Jürgen Habermas schon in den 1980er-Jahren proklamiert hat, ist nun integraler Bestandteil unseres Alltags. Nichts ist mehr auf Dauer gestellt, und die Zukunft ist in jeder Hinsicht offen - offen allerdings unter den Bedingungen eines hohen individuellen Risikos. Dieses gilt für Ausbildung, Arbeit, Familienplanung und langfristiger Daseinsfürsorge. Sowohl Wirtschaft als auch Politik vermitteln die Botschaft, dass jeder in jeder Lebenslage vor allem auf sich schauen muss und Gemeinwohlleistungen nur noch auf niedrigem Niveau zur Verfügung gestellt werden können. Der schleichende Abschied vom europäischen Modell des Sozialstaates, die Zunahme prekärer Beschäftigungsformen in vielen Bereichen, nicht zuletzt in Wissenschaft und Forschung, forcieren nicht nur Unsicherheiten, sondern auch Ängste. Letztere werden nicht nur durch subjektive Erfahrungen genährt, sondern auch durch einen Diskurs, der die Verursacher der aktuellen Krise unsichtbar macht und die Bringschuld auf die Seite der Steuerzahler verlagert. Dies führt dazu, dass komplexe Realitäten durch die unscharfe Brille von Furcht wahrgenommen werden und sich vor allem die Mittelschichten vom sozialen Abstieg bedroht fühlen. Auch wenn diese Furcht aktuell eher Projektion als Realität ist, so ist doch der Ruf nach starken Männern und Frauen schon deutlich vernehmbar. Die Bereitschaft zu einer Solidargesellschaft für sozial Schwache, Kranke und alte Menschen bröckelt, und junge Menschen befinden sich in der Zwickmühle, zu entscheiden, welche Lebensentscheidungen überhaupt noch tragfähige intellektuelle und finanzielle Investitionen in ihre Zukunft sein können. Studentische Proteste, aber auch der Aufruhr in den Banlieues Frankreichs oder Griechenlands sind Symptome für Schieflagen zwischen den Staaten und ihren BürgerInnen, zwischen den Eliten und den Betroffenen und zwischen den Generationen. Was in der Mitte der Gesellschaft noch eine diffuse Gemengelage von Angst, Befremden und Verabschiedung in eine neo-biedermeierliche Privatheit ist, ist für Jugendliche ohne Ausbildung, erwerbstätige Mütter und MigrantInnen bereits bedrohliche ökonomische Wirklichkeit, mit der sie prekär leben müssen und von der Politik vielfach alleingelassen werden.

Vor diesem Hintergrund lokaler wie internationaler Verwerfungen frage ich mich, wie wir mit verlorenen Gewissheiten im privaten wie im öffentlichen Leben umgehen sollen. Ich frage mich, in welcher Weise die Humanwissenschaften all diese vielfältigen und ineinander verschlungenen Phänomene analysieren können, sodass nicht nur die Wissenschaften, sondern auch die Menschen profitieren.

Und ich frage mich, wie dieser geistige Profit zu einer Orientierungshilfe für viele werden kann. Leichte Antworten darauf gibt es keine, da Wissenschaftsfortschritte und der Takt der alltäglichen Lebenswelten jeweils anderen Rhythmen folgen. Was jedoch für mich außer Frage steht, ist, dass wir WissenschafterInnen nicht nur im Fachjargon schreiben dürfen, sondern die Unsicherheiten unserer Zeit in gut verständliche Medienformate gießen müssen, die viele verstehen und nachvollziehen können. (Lutz Musner, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 27./28. November 2010)