Der menschliche Schluckvorgang ist sehr komplex

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Schlucken funktioniert beinahe so unbewusst wie das Atmen. Zwischen 500 und 2.000 Mal am Tag arbeiten 50 Muskelgruppen und fünf Hirnnerven daran, dass Nahrung, Flüssigkeit oder Speichel vom Mund ins Innere unseres Körpers gelangen. Aufmerksamkeit erregt dieser Vorgang in der Regel wenig - außer irgendetwas läuft schief.

Bei sechs bis sieben Prozent aller Menschen ist das auch der Fall - sie leiden unter Schluckstörungen. Mit dem Alter steigt die Häufigkeitskurve extrem an: in geriatrischen Einrichtungen sind bis zu 90 Prozent aller Patienten betroffen. Die Folgen von Schluckstörungen (Dysphagie, Anm.) sind sogar die vierthäufigste Todesursache bei den über 60-Jährigen. "Schlucken ist ein hoch komplexer, neuro-muskulärer Vorgang. Beim Menschen besonders, weil wir als einzige 'Tiere' einen Kehlkopf haben, der sehr tief steht. Deswegen können wir überhaupt sprechen", schildert Gerhard Friedrich, Vorstand der HNO-Universitätsklinik Graz. "Dafür ist das System aber auch sehr störanfällig."

Aspiration als bedrohliche Komplikation

Nicht nur unangenehm sondern lebensbedrohlich ist vor allem eine Begleiterscheinung des gestörten Schluckvorgangs, nämlich das Einatmen von Speichel oder Nahrung in die Atemwege (Aspiration, Anm.). Üblicherweise reagieren Menschen mit einem kräftigen Hustenreiz, sobald Speise in den Kehlkopf eindringt, sie sich "verschlucken". Bei der so genannten stillen Aspiration merken Patient und Betreuer aber nicht, dass der Patient aspiriert. "Die Sensibilität ist bei den neurologischen Patienten herabgesetzt - kleine Mengen an Flüssigkeit oder Speise können unbemerkt in die Lunge gelangen und dort akute Lungenentzündungen oder schwere chronische Lungenveränderungen auslösen", erklärt Friedrich.

Große Störungspalette

Die Gründe für Schluckstörungen sind vielfältig. "Zuerst müssen Tumore im HNO-Bereich ausgeschlossen werden", erklärt Doris-Maria Denk-Linnert, stellvertretende Leiterin der Klinischen Abteilung Phoniatrie-Logopädie an der MedUni Wien, den ersten Diagnoseschritt. Auch andere organische oder strukturelle Veränderungen im Bereich des Rachens und der Speiseröhre wie Aussackungen der Speiseröhre oder die Folgen einer Strahlentherapie müssen abgeklärt werden. Bei jüngeren Menschen können Schädel-Hirntraumen Probleme verursachen. Die Paradeerkrankung für gestörte Schluckvorgänge ist allerdings neurologischer Art - der Schlaganfall. Jede neurologische Veränderung kann prinzipiell Auslöser sein. 

Auch die Psyche kann Probleme verursachen: Menschen mit Phagophobie haben Angst vor dem Schlucken und müssen psychologisch oder psychiatrisch weiterbehandelt werden. "Eine rein psychogene Schluckstörung gibt es aber relativ selten", weiß Friedrich. Das Gefühl, dass etwas im Hals steckt - das so genannte Knödel- oder Globusgefühl - ist allerdings definitionsgemäß keine Schluckstörung. Es tritt typischerweise dann auf, wenn man nicht schluckt, das Essen macht keine Probleme. "Kloßgefühle treten sehr häufig bei Menschen mit Reflux auf. Das Zurückfließen von Magensäure führt zu Entzündungen und Verkrampfung der Muskeln", erklärt Friedrich.

Alter als Schluckhandicap

Auch das Alter selbst birgt naturgemäß Schluckprobleme: "Die neuromuskuläre Koordination und die Sensibilität nimmt ab. Beim Schlucken ist es wichtig, dass man in einer aufrechten Körperposition ist. Im Liegen können alte Menschen nicht mehr schlucken", weiß Friedrich. Auf ein anderes Problem macht Denk-Linnert aufmerksam: "Dementen und älteren Menschen darf man nicht einfach Essen hinstellen und es später wieder abholen. Sie tun sich schwer beim Schlucken oder vergessen auf das Essen und leiden daher häufig unter Mangelernährung." Ein wichtiger Aspekt, denn das beeinflusst wiederum die Immunsituation und erhöht das Risiko einer Lungenentzündung. "Der Ernährungszustand ist gerade für Intensiv- und Tumorpatienten ganz entscheidend für die Prognose", ergänzt die Medizinerin.

Ursachenforschung mit Geräten

Aufgrund der Vielfältigkeit der Schluckstörungen hat man an den Unikliniken Graz und Wien eine 'Schluckgruppe' installiert: HNO-Ärzte, Phoniater, Logopäden, Psychologen, Radiologen und Gastroenterologen arbeiten regelmäßig interdisziplinär zusammen. Neben der phoniatrischen Untersuchung ist die Videoendoskopie des Schluckaktes ein wichtiger Teil der Diagnostik. "Wir sehen zwar die Rachenphase des Schluckens, aber oftmals sind es Veränderungen der Speiseröhre, die Symptome machen, die der Patient im HNO-Bereich wahrnimmt", erklärt Denk-Linnert. Daher arbeite man sehr eng mit den Radiologen zusammen - sie können quasi einem Film vom Schlucken machen - er zeigt den gesamten Schluckakt von der Mundhöhle bis in den Magen.

Vielfältige Therapie

Ist die Ursache klar, richtet sich danach die Therapie: Operative Entfernung von anatomischen Störfaktoren, schluckverbessernde chirurgische Maßnahmen und vor allem auch funktionelle Schlucktherapie. "Beim Schlucken muss der Kehlkopf verschlossen und hinaufgezogen und der Speiseröhreneingang erweitert werden. Das kann mit speziellen Übungen und Schluckmanövern verbessert werden", erklärt Friedrich. Logopäden können so gute Ergebnisse erzielen. Sehr wichtig sei auch die Konsistenzänderung der Nahrung: "Flüssigkeiten sind immer schwer, Brei ist immer leicht zu schlucken. Die Nahrung muss oft eingedickt werden." 

Bewusstseinsbildung

Das Thema Schluckstörungen ist auch ein gesellschaftspolitisches: "Der Bedarf an einem adäquaten Schluckmanagement wird steigen, weil wir immer älter werden", prognostiziert Denk-Linnert. Die Bewusstmachung des Problems ist daher sowohl im Spitalsumfeld als auch in der Öffentlichkeit wichtig. Weltweit - auch im Wiener AKH - gibt es deshalb das Projekt Nutrition Day. Einmal im Jahr erfassen die teilnehmenden Stationen den Ernährungszustand aller Patienten. Fast jeder zweite Spitalspatient isst nämlich zu wenig. Auch für Friedrich ist die einfache Frage "Haben Sie in letzter Zeit Gewicht verloren?" essenziell, denn jemand der Schluckstörungen hat, verliert rapide an Gewicht. (Marietta Türk, derStandard.at, 1.12.2010)