Gegen die "Mauer der Furcht": Ausgrenzung und soziale Misere brachten eine junge arabische Generation auf. Ein Programm habe sie nicht, Umstürze seien gar nicht geplant gewesen, sagt der Politologe Volker Perthes zu Christoph Prantner.

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STANDARD: Mohamed ElBaradei scheint immer mehr zur Führungsfigur der Opposition zu werden. Ist es realistisch, dass er tatsächlich den Militärs als Verhandlungsführer gegenübertritt?

Perthes: Er ist kein Revolutionsführer, kein Khomeini. Er ist ein Kompromisskandidat für unterschiedliche Strömungen der Opposition. Das haben die Muslimbrüder, aber auch die jungen Leute, die Blogger-Szene, deutlich gemacht. Wenn es zu einer nationalen Einheitsregierung oder einer verfassungsgebenden Versammlung kommt, dann kann er der Sprecher der Opposition sein. Dabei kann er eine Übergangsrolle haben oder an Statur gewinnen. Aber in Ägypten wird in dieser Lage nicht längerfristig gedacht. Derzeit geht es darum, Personen zu finden, die sprechfähig und ansprechbar sind, und die gemeinsam mit dem Militär an einer sanften Landung arbeiten.

STANDARD: Warum können auch die Muslimbrüder mit ElBaradei als Oppositionssprecher leben?

Perthes: Aus zwei Gründen: Die Muslimbrüder haben die Revolution praktisch verschlafen, sie waren genauso wenig darauf vorbereitet wie das Regime. Da spielt auch eine Generationenfrage mit. Seitdem Mubarak an der Macht ist, sind sie dessen Lieblingsgegner. Man kennt einander, man braucht einander, man ist gleich sozialisiert - und orientiert sich an den gleichen Leitlinien. Aber die haben mit dem Leben der jungen Generation wenig zu tun und geben ihr auch keine Antworten. Deswegen war die Bruderschaft auch nicht von Anfang an dabei. Der zweite Grund ist: Die Muslimbrüder sind eine populäre und populistische Organisation. Sie haben Interesse, ihre Basis zu pflegen und nicht extremistisches Gedankengut um jeden Preis umzusetzen. Zur Zeit kommen ihre islamistischen Slogans nicht an, deswegen setzen sie sich auf den Zug, führen ihn aber nicht.

STANDARD: Was treibt die jungen Aktivisten an? Welche Ziele außer dem Sturz Mubaraks verfolgen sie?

Perthes: Es ist eher eine Generation als eine politische Gruppe. So etwas wie ein Programm hat sie vorerst nicht, man konzentriert sich auf die Forderung nach dem Rücktritt Mubaraks. Andere Elemente werden sich erst im Laufe der Zeit ergeben. Insofern sind viele ganz froh, dass erfahrene Leute wie ElBaradei da sind, die Forderungen formulieren können. Man wird diese Generation in der arabischen Welt in Zukunft die "2011er" nennen, so wie wir in Europa von den "68ern" sprechen. Ganz egal was jetzt in den einzelnen Ländern konkret umgesetzt wird, diese Generation wird die politische Kultur verändern. Diese Menschen sagen: Wir sind von Partizipation und Wohlstand ausgeschlossen worden, es geht um das Gefühl der Marginalisierung. Gerade in Ägypten hat diese Gruppe im Wesentlichen Bürger- und Menschenrechte vertreten, und keinen Machtwechsel. Es ging um Arbeit, um soziale Rechte, Meinungsfreiheit, und nicht um Ideologie oder die Machtfrage. Politisch geworden ist diese Generation erst mit den Geschehnissen in Tunesien. Dort hat man gesehen, dass die gut vernetzte, aber eben sozial ausgeschlossene Generation eine Chance hat, etwas zu verändern.

STANDARD: Spielen die Auslandsägypter eine Rolle in der Revolte?

Perthes: Das ist eher eine ägyptische Angelegenheit. Natürlich gibt es Verbindungen ins Ausland, aber letztlich kann jede Revolution nur im Lande stattfinden. Lange haben sich die Menschen durch Repression vom Aufbegehren abhalten lassen. Die Araber haben das "Mauer der Furcht" genannt. Die ist in Tunesien durchbrochen worden. Unter dieser Mauer haben Exilanten nie gelitten. Durchbrochen werden konnte sie nur durch Leute, die im Land selbst leben.

STANDARD: Welche regionalen Auswirkungen sind durch den Wandel in Ägypten absehbar?

Perthes: Es ist sicherlich ein politischer Dammbruch, was nicht heißt, dass alle autokratischen Staaten dem Beispiel Tunesiens oder Ägyptens folgen werden. Dazu sind die Ressourcenausstattungen der Länder viel zu unterschiedlich. In Saudi-Arabien oder den Emiraten können die Regime nach wie vor die Bürger alimentieren und Forderungen nach Demokratie abwehren. Der Dammbruch besteht eher in der Selbstermächtigung einer Generation. Israel dagegen macht derzeit einen großen Fehler, indem es sich so deutlich nicht nur hinter das Regime, sondern auch Mubarak selber stellt. Die Regierung macht deutlich, dass sie große Skepsis gegen jede Form der Veränderung hat. Das ist nicht hilfreich, weil man ja auch mit den Kräftem nach Mubarak auskommen muss.

STANDARD: Was halten Sie vom Krisenmanagement der Amerikaner?

Perthes: Den USA bleibt gar nicht viel übrig, als vorsichtig zu sein. Man darf nicht Partei ergreifen, weil man Ägypten braucht, vor allem für den Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern. Wir haben bei vielen Regimen in der Region eine Differenz zwischen konstruktiver Außen- und repressiver Innenpolitik. Für einen strategischen Akteur wie die USA ist beides wichtig. (DER STANDARD, Printausgabe, 2.2.2011)