Hunderte Stände und Geschäfte bilden den Kern von Serbiens erstem Chinatown: Blok 70.

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Auch die wenigen Restaurants der serbischen Hauptstadt, die sich der chinesischen Küche verschrieben haben, kaufen hier ihre Zutaten und Gewürze ein.

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Hinter dem Markt erstrecken sich die Hochhäuser, in denen der Großteil der Serbo-Chinesen wohnt.

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Auch vor den Toren des Marktes wird gehandelt.

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Andrang auf Billigstrumpfhosen und gefälschte Markenturnschuhe.

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Ihren Namen wollen die chinesischen Händler nicht nennen.

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Frau Li*, um die sechzig, rundlich, dunkle Dauerwelle, ist gerade dabei, ihren Zehn-Quadratmeter-Laden im Erdgeschoß auszuräumen. Hätte der nach außen hin lose strukturierte, etwas chaotisch wirkende Chinesenmarkt am nordwestlichen Rand der serbischen Hauptstadt Belgrad so etwas wie eine Sprecherin, Li erfüllte diese Rolle gut. Jedoch: bloß keine Namen. Und Fotos? Nein, auch keine Fotos, sagt sie, lächelt und schüttelt den Kopf.

Die meisten ihrer Kollegen hier, in den vom Reissbrett geplanten Sechziger- und Siebzigerjahrebauten der Vorstadt Novi Beograd, dächten so. Allesamt sind sie Chinesen und alle handeln sie mit Billigwaren des täglichen Gebrauchs. Und alle hätten Probleme mit ihren Visa, sagt Li. Aufenthaltstitel würden nicht verlängert; einige spielten mit dem Gedanken, das Land in Richtung Westeuropa zu verlassen. "Hier will niemand seinen Namen in der Zeitung lesen. Auch nicht in einer österreichischen."

Harte Zeiten

Hier, das ist die Markthalle im Novi Beograder Stadtteil Blok 70, ein zweistöckiges, knapp 200 Stände und Geschäftslokale fassendes Einkaufszentrum von der Grundfläche eines Fußballplatzes. Die manche stolz Chinatown nennen und andere des überbordenden Ramsches wegen meiden.

Es herrscht Aufbruchsstimmung. Die Karawane an ostasiatischen Händlern, die während der Kriegswirren am Balkan in das weithin isolierte zogen, ist ins Stocken geraten. Hatte sie das alte, von Slobodan Milošević geführte Regime in den Neunzigern noch hofiert und ihnen eine eigene Markthalle auf die grüne Wiese gestellt, bläst ihnen heute der kalte Wind des politischen und wirtschaftlichen Wandels ins Gesicht.

Das demokratische Serbien fügt sich nach und nach den europäischen Visanormen, wo die Steuerfahndung bis vor kurzem wegschaute, werden heute Rechnungen und Umsatzsteuer verlangt. Im kleinen Chinatown an der Ulica Jurija Gagarina bekommen die chinesischen Händler dies am eigenen Leibe zu spüren.

"Heute ist das Leben in China besser als hier"

So auch Frau Li. Auch mit ihren Geschäften läuft es nicht mehr so richtig rund. Die Waren die sie feilbietet, Duschschläuche etwa, Quietschenten und Badezimmerteppiche, allesamt aus China so wie sie, sind über die Jahre zu teuer geworden. Oder ihre Klientel ärmer. Ein Lehrer etwa verdient im Monat keine 400 Euro.

Seit die Preise gestiegen sind, werfe ihr Geschäft nicht mehr genug ab, um ihr Leben im Neubaugebiet am Rande der serbischen Hauptstadt zu finanzieren, sagt sie. Wo vor einigen Jahren noch busweise Kundschaft aus den entlegensten Ecken Serbiens zu Blok 70 gekarrt wurde, herrscht an diesem sonnigen Donnerstagnachmittag Leere.

Seit 1997 ist Frau Li schon hier. Sie gehört zur ersten Generation Serbo-Chinesen – und sie ist stolz darauf. Aber es hilft nichts. Sobald sie ihr Geschäft geräumt hat, will sie Blok 70, Belgrad und Serbien den Rücken kehren. "Heute ist das Leben in China besser als hier", sagt sie und steckt sich noch eine Zigarette an.

Urbane Legenden und politische Deals

Das war nicht immer so. Bis zu 20.000 Chinesen vor allem aus den armen Provinzen im Süden lebten vor zehn Jahren in Serbien, die meisten in den ausgedehnten Neubausiedlungen von Novi Beograd, keine fünfzehn Autominuten vom Zentrum der serbischen Hauptstadt entfernt. Wie viele genau weiß niemand. Heute sollen es noch etwa 5.000 sein.

"In den Neunzigerjahren war Blok 70 für viele Serben eine Art letzte Hoffnung, wo sie für ihr weniges Geld dringend benötigte Dinge kaufen konnten. Die waren zwar von denkbar schlechter Qualität, aber dafür billig", sagt Boško Jakšić. Der Journalist der Tageszeitung Politika beobachtet seit fünfzehn Jahren das Treiben in Belgrads Chinatown. "Das Regime wollte aus Belgrad eine Großstadt europäischen Zuschnitts machen. Und dazu gehört eben auch ein Chinatown."

Der Belgrader Flughafen, so wird erzählt, erlebte damals einen ungeahnten Boom, Tag für Tag brachten Langstreckenflugzeuge Dutzende Chinesen nach Serbien. Das Reich der Mitte zählte in diesen Jahren zu den wenigen Verbündeten des Regimes. Mira Marković, die Frau des früheren serbischen Präsidenten Slobodan Milošević, habe nach einer Chinareise die Idee zu der kleinen Völkerwanderung geboren, heißt es.

"Das ist aber nur eine urban legend", sagt der Ethnologe Ivan Đorđević, einer der wenigen serbischen Wissenschafter, die sich bisher mit dem chinesischen Soziotop am Stadtrand beschäftigt haben. "Unsere Regierung wollte es sich nicht mit Peking verscherzen. Es gab einen Deal mit der chinesischen Regierung, dass für die Chinesen keine Visabestimmungen gelten. Diese Leute sind aber vor allem Händler. Sie gehen dorthin, wo sie Geld verdienen können. Machen sie kein Geschäft, ziehen sie weiter."

Drei Karten: Belgrad, Serbien, China

Zehn Uhr dreißig, die beiden stämmigen Mittfünziger, die in einer dunklen, fensterlosen Kammer in das flimmernde Gewusel der Monitore ihrer Überwachungskameras starren, machen Pause. Einer der beiden Männer hat frischen Filterkaffee gebrüht und gießt ihn in zwei Becher, die neben halb geleerten, mit durchsichtiger Flüssigkeit gefüllten Stamperlgläsern stehen.

Probleme gäbe es hier praktisch nie, sagt der Ältere. Arbeit gibt es für die beiden Securitys auch nicht. "Alles ruhig hier", pflichtet ihm sein Kollege bei. Über dem Schreibtisch, an dem die beiden ihr zweites Frühstück einnehmen, hängen Landkarten. Ganz oben eine von Belgrad, darunter lassen sich die Umrisse von Serbien erkennen. Noch eine Schicht weiter unten schimmern Schriftzeichen durch, die fremd und asiatisch aussehen, ein im Vergleich zum kleinen Serbien riesenhaftes Land ist zu erahnen: China.

Schattenseiten

Für viele der Chinesen, die nach der ersten großen Einreisewelle nach Belgrad gekommen sind, hat das Leben in Europa mehr Schatten- als Sonnenseiten bereit gehalten. Zum Beispiel für Frau Xi. Die kleingewachsene 30-Jährige steht ihrem kaum zehn Quadratmeter großen Geschäft im ersten Stock des Markts und wickelt große Bögen Geschenkspapier auf eine schmale Rolle. Sonnenbrillen, Solartaschenrechner und wenig robust wirkende Fernbedienungen: ihrer Ware mangelt es an der Gewinnspanne, die ihr und ihrer Familie das nötige Geld verschafft. Seit 2001 ist sie schon da, vor sechs Jahren eröffnete sie ihr eigenes Geschäft.

So wie die meisten Chinesen von Blok 70 hat sie im Laufe der Zeit genügend Worte in der Sprache ihrer neuen Heimat gelernt, um ihre Arbeit zu verrichten. Will sie auf eine Frage nicht antworten, fehlen ihr die Worte. Zum Beispiel, wenn die mehrheitlich serbische Kundschaft versucht, ihren Gewinn mittels Handelns zu drücken.

Oder wenn die Sprache auf die Art ihrer Aufenthaltsgenehmigung kommt. Kaum einer ihrer Landsleute verfügt über unbefristete Aufenthaltspapiere, meist sind sie über Touristenvisa nach Serbien gekommen. Xis Kinder leben bei den Großeltern in China. "Ich kann hier mein Leben nicht planen, ich bin von Halbjahresvisa abhängig." Entsprechend gering ist auch der Kontakt, den Xi zu ihren serbischen Nachbarn in der Siedlung hat. "Die Chinesen aus Blok 70 bleiben strikt unter sich, über die Jahre haben sie sich eine ziemlich isolierte Gemeinschaft aufgebaut", sagt Ethnologe Đorđević.

Nächster Halt Spanien oder Italien

Herr Deng, 37, hat ein ähnliches Problem wie Frau Xi. "Kriegt man in Österreich leicht Dauervisa?" ruft er dem Reporter und der Dolmetscherin auf Serbisch zu. Während er mit seiner Ehefrau und der jüngeren Tochter in Belgrad gleichs ums Eck vom Chinesenmarkt wohnt, ist die Ältere von Dengs Töchtern in China geblieben um dort zur Schule zu gehen. Für Herrn Deng keine Dauerlösung. 1997 sei er einem Freund nach Serbien gefolgt, erzählt er. 2000 hat er dann sein Geschäft in Blok 70 eröffnet.

Heute, elf Jahre später, hat er eine Angestellte. So wie die meisten Chinesen, die es sich leisten können, greift auch Herr Deng auf einheimisches Personal zurück, der Sprache wegen. Behände schlichtet das Mädchen Hemden zu akkuraten Stapeln und verräumt sie in den Regalen. Herr Deng sitzt derweil hinter der Theke, die im Winter von drei Heizstrahlern warmgehalten wird, und zündet sich eine Marlboro an. "Mir gefällt die Umgebung hier, das einzige Problem sind die Papiere", klagt er.

Herrn Dengs Visum läuft in drei Monaten ab. Ob es dann zurück geht, in die Heimat, zu seiner Tochter, nach China? Herr Deng winkt ab. "Ich habe gehört, dass es in Spanien und Italien leichter sein soll, ein dauerhaftes Visum zu bekommen." (flon/derStandard.at, 6.6.2011)