Zukunftsforscher Reinhardt: "In 30 Jahren nix getan."

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Wien - "Die Österreicher haben schlicht und einfach Angst vor dem Kinderkriegen. Sie fürchten um Freiheit, Geld, Karriere": Das schließt Ulrich Reinhardt, Leiter der Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen, aus einer Umfrage unter 1000 Personen über 15. Kernergebnis: Nur zwei von fünf Österreichern (39 Prozent) halten das eigene Land für kinderfreundlich. In Dänemark sind es 86, in Frankreich 60 Prozent.

Eine Folge ist die hierzulande niedrige Geburtenrate von 1,4 pro Frau. Warum viele Österreicher keine Familie gründen? Weil sie lieber frei und unabhängig bleiben wollen, meinen 54 Prozent, weil Kinder (zu viel) Geld kosten 44 Prozent. An dritter Stelle: Karriere lasse sich schlecht mit Familie vereinbaren (40 Prozent). Lediglich ein Viertel sagt, dass sich dieses Kunststück im Rahmen der eigenen Arbeit vollbringen lässt.

Ist flächendeckende Kinderbetreuung also der Schlüssel? Die Umfrage gibt widersprüchliche Antworten. Zwar sind in den Topnationen Dänemark und Frankreich viel mehr Kleinkinder in Betreuung als in Österreich, wo 42 Prozent mehr Gratisplätze für die Kleinsten fordern. Jedoch beklagen gerade die Wiener, die das umfassendste Angebot vorfinden, besonders intensiv fehlende Kinderfreundlichkeit (siehe Grafik).

Dies könnte mit der besonderen Konstitution der Republik zusammenhängen, meint Reinhardt: Im Kontrast zur einzigen Metropole gelte das Land wohl vielfach noch als heile Welt. Er glaubt aber auch, dass der Ausbau der Kinderbetreuung allein keinen Babyboom provozieren werde: "Das lässt sich nicht so einfach verordnen."

Reinhardt vermisst Voraussetzungen in der Wirtschaft - etwa punkto Arbeitszeit: "In Dänemark geht jeder um 17 Uhr nach Hause zur Familie." Und er konstatiert eine starke Benachteiligung von Frauen, die den Nachwuchswunsch hintertreibe: "Je höher der Emanzipationsgrad in einem Land, desto mehr Kinder werden geboren - weil Mütter nicht um ihre Karrieren fürchten müssten."

Ihn habe überrascht, wie konservativ die Österreicher noch denken, sagt Reinhardt. Die Forderung, Männer sollten mehr familiäre Verantwortung übernehmen, ist nicht mehrheitsfähig: Nur 39 Prozent stimmen zu. Ein Viertel meint, Frauen sollten sich zwischen Beruf und Familie entscheiden - am Land ist es immer noch die Hälfte. Eine Mentalitätsfrage, meint Reinhardt: Während Französinnen ihre Kleinsten selbstverständlich in Kinderkrippen steckten, würden Frauen in unseren Breiten rasch als "Rabenmütter" verschrien - "dieses Wort gibt es ja nur im Deutschen".

Im Beruf bleibe Gleichberechtigung ebenfalls "ein Mythos", liest der Forscher nicht nur aus der Einkommensstatistik, sondern auch aus seinen Daten heraus. Ob Selbstverwirklichung, Anerkennung oder Aufstiegschancen: In jeder Kategorie fühlen sich weniger Frauen gut bedient als Männer. "In den letzten 30 Jahren hat sich nix getan", sagt Reinhardt. Frauenquoten als Gegenmaßnahme sind unpopulär: Nur 23 Prozent plädieren für einen Mindestanteil von 30 Prozent in großen und öffentlichen Betrieben.

Ein Hemmnis stecke aber auch in den Köpfen. Die heutige Generation der Österreicher und Deutschen bestehe aus "Pessimisten", die um ihren besonders hohen Wohlstand bangten und sich mit der Frage quälten, in welch unsichere Zukunft sie Kinder setzen würden, sagt Reinhardt: "Kurz gesagt: Sie denken zu viel nach." (Gerald John, DER STANDARD, Printausgabe, 9.6.2011)