"Die Bibliothek ist mein schönster Aufenthaltsort und wird es bleiben, gerade weil sie das Mausoleum einer untergehenden Kultur ist."

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Burkhard Spinnen.

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Im Alter von acht Jahren bekam ich auf einen Schlag viele Bücher. Plötzlich standen sie da, zwei Regalbretter trugen sie kaum. Die eine Hälfte war als Geschenke zur Erstkommunion ins Haus gekommen. Ich erinnere mich an das übliche Quantum Karl May, an Schwabs Sagen des klassischen Altertums, an ein Kinderlexikon und ein paar Kinderbücher aus der Fünf Freunde-Richtung. Die andere Hälfte stammte von meinem älteren Cousin. Es waren Kinderbücher aus den 50er-Jahren, sie rochen gut nach schlechtem Papier, und sie gaben mir beim Lesen das vage Gefühl, mich in etwas schon Vergangenem herumzutreiben.

Doch das große Faszinosum waren damals weniger die einzelnen Texte, sondern vielmehr die Menge des zu Lesenden, ein vermeintlich ewiger Vorrat, der wie aus einem Füllhorn über mir ausgegossen war. In unserem bis dato bücherlosen Haushalt besaß ich plötzlich eine Bibliothek, vor der ich stehen und auswählen konnte. Welch ein Schatz! Ich schrieb meinen Namen in die Bücher, stellte sie nach Größe auf und nummerierte sie fortlaufend.

Dass meine erste Bibliothek nicht wesentlich wuchs, lag paradoxerweise an meinem Drang zur Menge. Denn bald wurde ich regelmäßiger Besucher unserer Stadtbibliothek, und verglichen mit der war meine eigene Sammlung mehr ärmlich als bescheiden. Ich erklärte also die Stadtbibliothek zu "meiner" Bibliothek und trug jahrelang ihre Bestände zur Lektüre hinaus in unseren ländlichen Vorort und wieder zurück.

So konnte ich, als ich meine Studentenbude bezog, wieder nur zwei Regalbretter mit Büchern füllen. Obwohl die Universität so viel mehr an Lektüre zur Verfügung stellte, machte das Germanistikstudium aus mir einen Büchersammler. Die erste Erfahrung, dass ein gesuchtes Buch in keiner Bibliothek vorhanden war, aktivierte eine meiner genetischen Prädispositionen; jedenfalls verselbstständigte sich meine Suche nach Büchern über den unmittelbaren Zweck hinaus und wurde rasch zur Manie. Allmählich verdrängten billige Regale die Möbel aus meiner Bude; viele Stunden, ja Tage verbrachte ich auf Flohmärkten; fremde Städte kartografierte ich nach der Lage ihrer Antiquariate. Wertvolle Funde musste ich oft verkaufen, um die laufenden Anschaffungen finanzieren zu können. Darunter war eine Kafka-Erstausgabe, der ich bis heute nachtrauere. Als ich heiratete, musste ich meiner Frau versprechen, uns durch meine Büchersucht nicht zu ruinieren.

Hätte man mich damals, in den 80er-Jahren, gefragt, was mir meine private Bibliothek denn bedeute, so hätte ich mich über die Frage sehr gewundert. Der Besitz von Büchern, ja das Leben zwischen ihnen, erschienen mir damals als selbstverständlich für jemanden wie mich, der so gerne mit und in Texten lebte. Die Bücherwände begrenzten den Lebensraum, sie beengten ihn sogar, aber sie öffneten ihn auch ins wahrhaft Unbegrenzte. Ein gelesenes Buch gehörte zum Leben wie der gestrige Tag, ein ungelesenes aber wie die Zukunft mit allen ihren Möglichkeiten. Das Zusammentragen von Büchern und ihre Anordnung in den Regalen waren so etwas wie das Verfassen der inneren Biografie. Man kann sich vorstellen, welch großer Moment es in meinem Leben war, als ich das erste eigene, also selbst geschriebene Buch ins Regal stellen konnte.

Der Bestand wuchs weiter. Aus meinem Arbeitszimmer wucherten die Regale über den Flur und in andere Zimmer. Kurz bevor ich den halsbrecherischen Plan realisieren wollte, die Wand neben der Treppe zum Speicher auch mit Regalen zu versehen, geschah, was ich mir seit 25 Jahren gewünscht hatte: Ich bekam, angrenzend an ein externes Arbeitszimmer, einen Raum, der nur für meine Bücher bestimmt war. Der Traum von der "richtigen" eigenen Bibliothek wurde wahr. Wochenlang zimmerte ich Regale, holte die Bestände von überall zusammen, ordnete sie neu.

Doch es ist etwas Schreckliches passiert. Ich kann mich an meiner Bibliothek nicht mehr so uneingeschränkt freuen. Sie ist zu spät gekommen, und jetzt wird sie, ohne etwas dafür zu können, bestraft. Von wem? Vom Internet. Denn durch das Netz bin ich ja von praktisch jedem Buch der Welt nur einen Mausklick entfernt, egal ob es im Handel ist oder längst vergriffen. Über die verschiedenen Plattformen könnte ich mir meine in vielen Jahren mühsam gesammelten Bestände älterer Literatur an einem Nachmittag zusammenordern. Irgendein Buch wie früher "auf Verdacht" zu kaufen, weil die Gelegenheit so schnell vielleicht nicht wiederkommt, ist unnötig geworden; das Netz erfüllt jeden Bücherwunsch im Handumdrehen - und das zu Preisen, die bedingt durch die verschärfte Konkurrenz teilweise unter denen früherer Jahre liegen! Und schließlich gibt es Google Books mit seinen ständig wachsenden Beständen digitalisierter Literatur, die rechtefrei ist und also umsonst heruntergeladen werden kann.

Millionen von Büchern ...

Kurz gesagt: Ein Buch zu besorgen, ganz egal welches, ist heute so einfach, wie ein Glas Wasser zu holen. Also stehe ich in meinem Bibliotheksraum und spüre, wie meine eigene Sammlung als verkleinertes Abbild der großen Bibliotheken und als "Vorratsbestand" für die individuelle Lektüre einen gewaltigen Teil ihrer Funktion verloren hat. Von ihrem Nimbus ganz zu schweigen! Da steht er zwar, der komplette Goethe in der Hamburger Ausgabe, für den ich einmal das ganze Geburtstagsgeld ausgeben musste, aber was tue ich heute, wenn ich eine Stelle suche: Ich gehe ins Netz. Die stolze Haltung, mit der ich einmal dem Besucher meine Bestände zeigte - jetzt, im digitalen Zeitalter, droht sie ins Lächerliche zu kippen. Denn wer einen PC mit Netzanschluss im Zimmer hat (und wer hat das nicht), der ist mit Millionen von Büchern und Texten kurzgeschlossen. Ich fürchte, ich stehe als Besitzer einer analogen Bibliothek wie einer da, der stolz seinen Vorrat an Brennholz präsentiert, worauf sein Gegenüber mit einem süffisanten Hinweis auf seinen Stromanschluss kontert.

Die Fülle des Lesestoffes, die ich im Anblick meiner Kinderbibliothek als so überwältigend empfunden habe, sie wird heute vom Netz repräsentiert. Die fantastische Zugänglichkeit der Textwelt hat die Verhältnisse umgekehrt: Vor der digitalen Bibliothek im Netz verblassen alle analogen Sammlungen. Wie Tante-Emma-Läden stehen sie neben den Super-Malls virtueller Textwelten. Solange es ihm nicht nur um Papier, sondern um Texte geht, ist der Büchersammler jetzt zur antiquarischen Figur geworden; mit einem schiefen Grinsen betrachtet ihn der moderne Textkonsument, der sekundenschnell seinen Lesewunsch im Netz realisiert.

Wir stehen gerade erst am Anfang vom Ende der Bibliothek! Noch dient das Netz zumeist als Vermittler zwischen Lektürewunsch und analogem Buch. Das E-Book aber wird die lästigen, Raum und Transportaufwand fordernden Papiermengen obsolet machen. Die weiland Plattensammlung existiert bei meinen Söhnen bereits als eine Datensammlung auf dem PC oder iPod. Selbst ein avancierter Musiksammler kann, wenn er will, seine Bestände in einer externen Festplatte unterbringen, die weniger Platz erfordert als ein Waffeleisen. Wenn erst das E-Book verbreitet ist, wird man darauf ganze Bibliotheken unterbringen und zu jedem Ort transportieren können. Der Umzug mit zehntausend Büchern, für viele alte Büchersammler ein Horror und Grund, nie die Wohnung zu wechseln, lässt sich dann mit Händen in der Tasche bewerkstelligen.

Gut, ich weiß, es gibt immer noch genug Gründe, die für die private Bibliothek sprechen, und immer wieder bete ich sie mir herunter: Das Buch ist ein schöner Gegenstand; das gelesene Exemplar ist das Dokument eines inneren Erlebnisses. Das stimmt. Aber ich fürchte, das sind allesamt nostalgische, wenn nicht gar sentimentale Gründe. Wer sich wirklich für Texte und nicht für antiquarisches Papier begeistert, und insbesondere, wer die Fülle der möglichen Lektüre als Abbild der Fülle des möglichen Lebens begreift und liebt, der wird, ja der muss den Versuchungen der digitalen Bibliothek verfallen.

Man stelle sich vor, beim Lokführerstreik auf einem Provinzbahnhof zu stranden. Keine Lektüre dabei, kein Buchladen geöffnet. Doch qua E-Book und drahtloser Netzverbindung ist man "in cloud" mit dem Kosmos aller möglichen Lektüren verbunden! Wäre das nicht ein Bibliotheksbesitz, der wahrhaft lebensrettend ist? Vermutlich. Dennoch weiß ich, dass ich in diesem Leben nicht werde anders können, als den Anblick einer analogen Bücherwand großartig zu finden. Meine Bibliothek ist mein schönster Aufenthaltsort und wird es bleiben, gerade weil sie das Mausoleum einer untergehenden Kultur ist. (Burkhard Spinnen, DER STANDARD 11./12./13.5.2011)