Sieben "Ver-Rückungen" zur Geldkrise.

1. Das goldene Kalb

Nachdem sie noch am Freitag davor ein ausgezeichnetes Rating der Stufe A genossen hatte, war die Investmentbank Lehman Brothers am Montag, dem 15. September 2008, insolvent. Dieses Ereignis markierte den Beginn der kritischen Phase der größten Finanzmarktkrise seit den Dreißigerjahren. Am selben Abend erzielte das in Kunstharz gegossene Goldene Kalb des britischen Künstlers Damien Hirst bei Sotheby's einen Rekordauktionspreis von 10,5 Millionen Pfund.

Zwei Jahre später, im September 2010, ging bei Sotheby's wieder eine Moderne-Auktion über die Bühne. Zur Versteigerung standen die Kunstwerke aus der Moderne-Sammlung des insolventen Bankhauses Lehman, deren Erlös die Insolvenzmasse zur Befriedigung der Gläubigeransprüche auffetten sollte. Darunter auch ein Werk von Damien Hirst. Diesmal jedoch fand sich kein Käufer.

2. High-Frequency-Trading

Dow Jones, jenes Medienunternehmen, in dessen Eigentum auch das Wall Street Journal steht, bietet seit kurzem einen neuen Finanznachrichtendienst an. Er nennt sich Lexicon und richtet sich an eine Zielgruppe, die nicht an Analysen oder Hintergrundinformationen interessiert ist, sondern nur an nacktem, sekundenaktuellem Zahlenmaterial. Zielgruppe und Abonnenten von Lexicon sind nämlich nicht eigenverantwortlich handelnde Personen, sondern Algorithmen, multidimensionale Rechenprogramme zur Optimierung von Veranlagungsentscheidungen. Im Rahmen ihrer einprogrammierten Logik treffen sie ihre Entscheidungen ohne weiteren menschlichen Eingriff. High-Frequency-Trading oder Algo-Trading nennt sich diese Form des Börsenhandels ohne direkten menschlichen Zugriff.

Zur Gewährleistung ultrakurzer Übertragungsgeschwindigkeiten sind die so gedanken- wie bedenkenlosen Investitionsroboter auf teuer angemieteten Flächen in unmittelbarer Nähe zu den Computerzentren der großen Börsen untergebracht.

Was diese hyperleistungsfähigen Systeme treiben, kommt einem automatisierten Insider-Trading gleich. Es führt zu Marktverzerrungen und stellt mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar ein Sicherheitsrisiko für das gesamte Finanzsystem dar. Durch ihre Blitz-orders greifen sie in gerade laufende Handelsvorgänge von Konkurrenten ein, um von Preisinformationen zu profitieren, ohne am gehandelten Titel selbst interessiert zu sein. Heute laufen bereits mehr als 60 Prozent des an US-Börsen getätigten Handelsvolumens über derartige Systeme.

3. Hexensabbat

Den "veloziferischen Charakter" einer sich immer stärker beschleunigenden Zeit beklagte schon Johann Wolfgang von Goethe. Seine schöpferische Wortverbindung von Geschwindigkeit (velocitas) und dem Teufel (Luzifer) entstand am Beginn der Moderne, zu den Anfängen der Industriegesellschaft.

"Hexensabbat" - nicht zufällig eine faustische Assoziation - nennen Börsenhändler jene meist vierteljährlichen Verfallstage, an denen mehrere wichtige Indizes hektische Kaufs- oder Verkaufsaktionen auslösen. Die Kursausschläge an solchen Tagen sind oft sehr hoch. Die Ursache dafür liegt jedoch nicht in wesentlichen Nachrichten über Unternehmen oder über die Konjunkturentwicklung, sondern im Ablauf bestimmter Fristen, zu denen Spekulanten sich zur Einlösung von Optionen oder zur Realisierung von Terminkontrakten verpflichtet haben.

4. Die Welt der Schattenbanken

Dem immer detaillierter und kasuistischer regulierten Bankensystem steht ein bis heute praktisch unreguliertes und unkontrolliertes Finanzgeschehen in den sogenannten Schattenbanken gegenüber. Diese Finanzierungsgesellschaften sind meist in Steueroasen angesiedelt und rechtlich so konstruiert, dass pro forma kein direkter bilanzieller Zusammenhang mit den Banken besteht, von denen sie initiiert wurden.

Im Sommer 2008, also noch vor dem Höhepunkt der Finanzkrise, betrug das Gesamtvolumen aller Schattenbanken etwa 20 Billionen Dollar - beinahe das Doppelte der kumulierten Bilanzsumme aller Banken, die damals bei 11 Billionen Dollar lag. Und noch heute, bei einem auf 13 Billionen Dollar angestiegenen Gesamtumfang aller Bankenbilanzen, ist das auf 16 Billionen "geschrumpfte" Reich der Schattenbanken deutlich größer als das im Zentrum der Aufmerksamkeit der Kontrollbehörden stehende offizielle Bankensystem.

Obwohl mittlerweile unbestritten ist, dass die letztlich zur Krise führende, unkontrollierte Kreditgeldschöpfung hier ihren Ausgang nahm, bleiben die längst überfälligen Konsequenzen im Regulierungssystem bis heute aus.

5. Augenblickserfolge durch Kreditexpansion

Hinter dem Anspruch der Banken- und Finanzbranche, die bestbezahlten Manager und Mitarbeiter zu haben, steht die Behauptung, dort würde die höchste Wertschöpfung erzielt. Erstaunlicherweise bleibt diese Lebenslüge seitens der Vertreter der "Realwirtschaft", die sich mit Produkten und Dienstleistungen am Markt behaupten müssen, meist unwidersprochen.

Die Krise hat mit nicht zu überbietender Deutlichkeit gezeigt, dass ein sehr großer Teil der Bankengewinne der Vorjahre innerhalb kürzester Zeit durch drastische Verluste ausgelöscht wurde. Offensichtlich gab es in den Jahren davor aus dem Finanzsystem kaum reelle Wertschöpfung, sondern lediglich eine Serie von Augenblickserfolgen. Diese verdankten sich vor allem der Ausweitung der Verschuldungsspielräume und einer extremen Expansion neuen, durch Kredite geschaffenen Buchgeldes.

Langsam erst zeichnen sich die Konturen einer neuen Finanzmarktökonomie ab, die sich von der Illusion verabschiedet, die Finanzmärkte seien jene mit der perfekten Konkurrenz. Kritische Ökonomen der London School of Economics stellten kürzlich die Gegenthese auf: Kapitalmärkte stabilisierten sich im Unterschied zu den Märkten der Realwirtschaft schon deshalb nicht von selbst, weil sie durch falsche Anreizsysteme vorübergehend Überschussrenditen erzielen können. Sie entzögen dadurch der Unternehmerwirtschaft Wertschöpfungschancen. Der vor dem Ausbruch der Krise innerhalb eines Jahrzehnts von etwa 15 auf mehr als 40 Prozent gestiegene Anteil der Banken an den Gesamtgewinnen der größten amerikanischen Unternehmen sei dafür der beste Beweis.

6: Ein wirksames Containment gegen Finanzmarktschocks

Die Finanzbranche konzentriert sich bisher auf die Abwehr und Umgehung strengerer Regeln, statt aktiv am Aufbau eines gegen Krisen resistenten Finanzsystems mitzuwirken. Und das, obwohl der Internationale Währungsfonds die Summe der direkten staatlichen Hilfen für das Bankensystem der am stärksten betroffenen Volkswirtschaften mittlerweile auf 1,5 Billionen Dollar schätzt, von denen erst etwa ein Viertel im Aufschwung wieder zurückgeholt werden konnte.

Dabei sind die Konstruktionsmerkmale eines wirkungsvollen "Containments" für ein globalisiertes Finanzsystem, das immer noch nach regionalen Regeln spielt, gar kein Mirakel. Vor allem mehr "echtes" Eigenkapital - ohne die immer noch tolerierte Verwässerung durch sogenannte "Risikogewichtung" - brächte jene Stabilität, auf die Unternehmen und Steuerzahler ein Recht haben.

7. Verlorenes Vorbild und eine neue Vorrangregel

Die Finanzkrise hat zur höchsten je im OECD-Raum gemessenen Staatsverschuldung geführt. Die überall zur gleichen Zeit erforderliche Konsolidierung der Budgets wird über viele Jahre stark dämpfend auf das Wachstum wirken - mit den entsprechenden Folgen für die Arbeitsmärkte und eine umso schleppendere Entschuldung. Die latente Unsicherheit über die Weiterentwicklung der angegriffenen Gemeinschaftswährung dämpft die Investitionslust der Unternehmen. Niemand will sich darauf verlassen, dass der Ausgleich auf Dauer aus den derzeit boomenden asiatischen Volkswirtschaften und anderen Schwellenländern kommt.

Die Zeiten, in denen das angloamerikanische Kapitalmarktsystem als vorbildlich galt und von den internationalen Institutionen als Standard gegenüber den "Emerging Markets" durchgesetzt wurde, sind wohl vorbei. Ökonomen aus asiatischen Staaten fordern mit wachsendem Selbstbewusstsein die USA und Europa auf, möglichst vor der eigenen Tür zu kehren und endlich die richtigen Konsequenzen aus dem Scheitern ihres geradezu orthodoxen Glaubens an Finanzmarkteffizienz und Selbstregulierung zu ziehen.

Tatsächlich führt kein Weg daran vorbei, das Bankensystem unter Verzicht auf allzu temporeiche, überkomplexe Finanzinnovationen auf seine Kernfunktionen zurückzuführen und gewöhnliche Marktschwankungen durch kluge Spielregeln wirksam abzufedern, statt sie durch falsche Anreize noch zu verstärken. Nur eine eindeutige Vorrangregel, die Wertschöpfung vor Geldschöpfung reiht, führt am Ende zu größerer Systemsicherheit. (Wilfried Stadler, DER STANDARD; Print-Ausgabe, 6./7.8.2011)