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Auch in der Nacht auf Mittwoch eskalierte die Gewalt in Liverpool

Foto: EPA/PETER BYRNE

Eine ganze Generation europäischer Jugendlicher fühlt sich durch die Sparmaßnahmen ihrer Regierungen um die beruflichen und persönlichen Perspektiven betrogen. Der Aufstand holt sie aus dem Dunkel.

Die im Dunklen sieht man nicht", wusste schon Bertolt Brecht das Dilemma der Unterprivilegierten zusammenzufassen.

Nun haben sie sich ins Licht gekämpft: Arbeitslos, unterbezahlt, ungehört. Unter diesen drei Attributen lässt sich die Grundstimmung von Europas Jugend zusammenfassen, die derzeit in diversen Ländern gegen das wachsende Ohnmachtsgefühl aufbegehrt. Das seit 2008 über dem Zukunftshimmel hängende Damoklesschwert der Finanz- und Wirtschaftskrise eint sie alle: die "Empörten" auf den Plätzen von Spaniens Städten, die politische Rationalität herstellen wollen, die Griechen, die nun bluten müssen für die jahrzehntelange Überschuldung ihres Landes, oder die gut ausgebildeten Portugiesen, die sich zunehmende ausgegrenzt fühlen von der Politik.

Die Medien stellen vordergründig Gemeinsamkeiten her, weil vor allem jungen Menschen an den Demonstrationen teilnehmen. Unterschiede gibt es jedoch in den Protestformen und den sozialen Strukturen der Demonstrantengruppen. Sind es in Spanien vor allem die Studenten, die, konfrontiert mit einer Arbeitslosigkeit von 40 Prozent, die Politik zu Lösungen drängen wollen, fliegen in Großbritannien die Pflastersteine der Arbeiterklasse.

Verwundbarer als vorher

"Die soziale Zusammensetzung in England ist noch nicht klar," erklärt Klaus Dörre vom soziologischen Institut in Jena. Klar ist jedenfalls, dass das Sparpaket der britischen Regierung die Unterklasse noch verwundbarer gemacht hat als ohnehin. Da geht es nicht nur um Studien- und Schulgebühren: Jugendtreffpunkte an urbanen Brennpunkten werden ebenso gestrichen wie Programme, die eine desolate und orientierungslose Generation davor bewahren soll, was dieser Tage sichtbar ist. Die Eskalation auf der Straße, angetrieben durch die Wut im Bauch. "In England ist die Jugend auf der Straße, die von einem kulturellen Existenzminimum bedroht ist", so Dörre. Auch hier gibt es regionale Jugendarbeitslosigkeit von 25 Prozent. Der britische Staat habe vor Jahren resigniert und setzt nicht mehr auf soziale Integration dieser Gruppen, sondern auf Überwachung und Kontrolle, fasst Dörre zusammen.

"Der Staat drängt auf Regeln. Wenn er sie aber selbst missachtet – wie im Falle des Taxifahrers, der vergangene Woche von Polizisten erschossen wurde – ist das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt."

Auch in den französischen Randbezirken habe ein tödlicher Polizeieinsatz 2005 zu Ausschreitungen geführt. Jugendliche seien am ehesten in der Lage eine Strategie zu wählen, die die Regeln des Staates bricht. Zur Perspektivenlosigkeit kommt der juvenile Überschwung, und binnen Stunden kann alles aus dem Ruder laufen. Was sich in Jahren an Ohnmachtsgefühl aufgebaut hat, findet ein Ventil. "Auf einmal ist die Erkenntnis da: ich kann den Staat vor mir hertreiben." Dass im Gegensatz zu den monatelangen friedvollen Kundgebungen die Aufmerksamkeit der Medien mit der Zahl der Randalierer steigt, tut seinen Rest. Die Jungen wollen gesehen, gehört werden. "Unsicherheit zu erzeugen ist ihre politische Waffe", erklärt der Soziologe.

Der Feind ist diffus

War es beispielsweise 1968 und danach einfach, den Feind als solchen zu identifizieren, ist das heute weitaus schwieriger: Neoliberalismus, Globalisierung, verkrustete Parteisysteme, Perspektivenlosigkeit – das bringt Menschen mit unterschiedlichstem Unmut auf die Straße. Protest ist nicht nur Ausdrucksmittel der Jugend, man sieht zum Beispiel bei "Stuttgart 21" auch Rentner und Bürgerliche gegen den geplanten Bahnhof demonstrieren.

"Ich habe das Gefühl, ich leiste meinen Beitrag und kann meinen Unmut kanalisieren", sagt Steffen Stierle. Das Bauchgefühl, dass die Mechanismen der Wirtschaft zunehmend ungerechter werden und die Welt "verrückt" spiele, hat ihn vor fünf Jahren zur deutschen Attac-Organisation gebracht. Es gebe hier zahlreiche Workshops für "Widerstandsfrischlinge", in denen man vom Flashmob bis zur Sitzblockade das ABC des Aufstands von unten lernen kann. Aber keine Gewalt. "Die lehnen wir als politische Maßnahme ab", betont Stierle.

Anders ein altgedienter Aktivist, der anonym bleiben will. Steine schmeißen sei manchmal eben ein Mittel der Selbstverteidigung. "Und gemeinsamer Widerstand im Kollektiv gegen die Polizei ist nun einmal Ausdruck meines zivilen Ungehorsams." (Julia Herrnböck, DER STANDARD Printausgabe, 11.8.2011)