Leugnen und Ablenken helfen nicht: Die Ereignisse der letzten Tage in London und zahlreichen weiteren englischen Städten zeigen, wie brutal und rücksichtslos der Neoliberalismus ungeachtet allen sozialen Fortschritts in Europa seine Spur der Verwüstung zu ziehen versteht.

Bevor David Cameron im Vereinigten Königreich die Macht an sich riss, kannte man jene Jugendlichen, die jetzt gegen die unterdrückerischen Verhältnisse im Spätkapitalismus aufbegehren, als sensible, strebsame junge Menschen, die den häuslichen Büchertisch nur verließen, um zwei bis drei Mal pro Tag eine Bewerbungsmappe abzuschicken, mit Freunden eine Businessidee zu besprechen oder ihrer Großmutter Blumen zu holen.

Dankt dem Diktat des Marktes

Seit jedoch das Diktat des Marktes Einzug hielt und den Ausgebeuteten deutlich wurde, dass die Regierung sie mit ihren Problemen alleine lassen würde, begann die Stimmung zu kippen und die sozialen Missstände, die reaktionäre Politiker und Medien hinter den üblichen Hetzparolen von wegen "Sittenverfall" und "amoralische Unterschicht" zu verbergen trachten, traten in vollem Ausmaß zu Tage.

Denn was nützt dem gefühlten Mitglied der Arbeiterklasse - immerhin haben die meisten zumindest im Rahmen von Sozialstunden schon mal gearbeitet, die ihnen von der kapitalistischen Klassenjustiz aufgebrummt wurden - der Blackberry, wenn die Gesellschaft ihm die besten, kostenpflichtigen Apps dazu vorenthält? Hat denn nicht die Arbeiterklasse, deren Befreiung mangels eigener Initiative die revolutionäre Masse aus gelangweilten Millionärskindern, Gelegenheitskriminellen und Langzeitstudenten stellvertretend betreibt, all die Waren, die in den Elektronik-, Gemüse- oder Schnapsläden verrotteten, erst hergestellt und hat nicht ihre selbsterklärte Avantgarde deshalb auch das Recht, sie den Händlern und potenziellen Käufern wieder wegzunehmen?

Was nützen den sozial isolierten Jugendlichen ihre Designerklamotten, wenn der Staat nicht in der Lage ist, die dazu passenden Accessoires und einen 3er-BMW zu stellen, die es ihnen erst ermöglichen würden, in Mitten des kapitalistischen Konsumterrors ihre Identität zu finden?

Bezeichnend für das unangemessene und überharte Vorgehen der Polizeikräfte ist es zudem, dass auf Grund vager Verdächtigung, rassistischer Vorurteile und falscher Situationsanalyse friedliche Jugendliche bedrängt und dadurch weiter provoziert wurden. So wurde beispielsweise am frühen Mittwochmorgen ein 19-jähriger Kapuzenanzugträger aus Birmingham festgesetzt, weil er brennbare Flüssigkeiten bei sich trug. Dass er sich gerade auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch als Chemikant befand und dazu Arbeitsproben mitnehmen wollte, glaubte ihm die britische Fassung der Noskepolizei natürlich nicht. Auch gutgemeinte Ratschläge besorgter Politiker aus aller Welt wurden ignoriert.

Der aufgeklärte Teil der Gesellschaft sollte klar Partei ergreifen für die revoltierenden Opfer der mangelnden Verteilungsgerechtigkeit und der sozialen Ungleichheit. Wir sollten dem rechten Medienmainstream entgegentreten, der von einem "überzogenen Anspruchsdenken" schwadroniert, das der Sozialstaat geschaffen habe, oder der wertvolles zeitgenössisches Kulturgut von MTV Skins bis hin zu britischen Varianten von Charlotte Roche oder den fortschrittlichen Wertewandel innerhalb der Gesellschaft für einen "moralischen Niedergang" oder eine "Brutalisierung" Jugendlicher mitverantwortlich machen möchte. Erst recht dürfen wir es nicht zulassen, dass jetzt Persönlichkeiten eine Mitverantwortung an den Todesopfern und Sachschäden durch die Revolte gegeben wird, die jahrelang die Ungleichheit im Kapitalismus und die ungerechte Verteilung der Güter angeprangert haben.

Auf dem Gipfel der Moral

Im Unterschied zum fundamentalistischen Kulturchristen Breivik hat keiner der revoltierenden Jugendlichen ein Manifest verfasst, in dem er Margot Käßmann, die Gewerkschaften, Inge Höger oder Attac zitiert hätte. Auf Grund ihres Bildungsstandes wären die meisten Protestierenden dazu auch gar nicht erst in der Lage gewesen.

Selbst einem visionären Geist wie dem Genossen Stéphane Héssel kann die robuste Vorgehensweise mancher Empörter nicht angelastet werden, da diese zwar klassische Topoi der Kapitalismuskritik wie Umsturz, Sozialneid oder Antisemitismus besetzen, aber gewaltintensive Ausformungen derselben - und das unterscheidet sie von antimodernen Abtreibungs-, Empfängnisverhütungs- und Geschlechtergerechtigkeitsgegnern wie Anders B. Breivik - immer nur dem Kapitalismus selbst, nie aber der Kritik an Selbigem anzulasten sind. Denn wer mit der Inbrunst des Revolutionärs dafür eintritt, eine Gesellschaft zu schaffen, in der das Downloaden einer App durch den einen die Bedingung für das Downloaden der gleichen durch alle anderen ist, hat jene Stufe der Moral erklommen, von der es nur noch schwerlich weiter aufwärts gehen kann.

So kommt es, dass man - wendet man Doublethink nur konsequent genug an - in analoger Anwendung des Bonmots "Frankreich liebt den Verrat, aber nicht den Verräter" zwar den Molliwurf preisen darf, nicht aber die dazugehörigen geistigen Lappentränker... (Harry Tisch, derStandard.at, 13.8.2011)