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Eine Million Tote in sechs Wochen. Schädel und Gebeine im Kigali Memorial Centre.

Foto: Reuters/FINBARR O'REILLY

Es wären nur Fakten, und gegen solche ist man lange abgestumpft. Fidelle, drei Monate, mit Macheten zu Tode gehackt. Chanelle, sechs Monate, in Brand gesteckt. Adriane, ein Jahr, durch Stiche mit einem Speer in die Augen getötet. Wären da nicht die Fotos der Kinder, im Riesenformat, jeder Lichtfleck auf den Augen ist erkennbar, und der Rotz unter den Nasen. Es wären nur einige von vielen tausend Kindern, die in jedem Jahr in den Kriegen dieser Welt sterben. Diese aber hat man aus ihrem Grab geholt und sie wieder lebendig gemacht.

Wenn Zurückhaltung bei der Dokumentation von Grauen ein Indiz dafür ist, wie gut die Wunden verheilt sind, dann wurde das Genozid-Museum von Kigali, der Hauptstadt Ruandas, mit offenen Wunden geschaffen. Nur schwer lässt sich diese Gedenkstätte ertragen, die ohne Rücksicht auf Empfindlichkeiten vom Völkermord erzählt, den Völkermord zu nennen sich die Staaten im UN-Sicherheitsrat damals so lange weigerten.

Kigali Memorial Centre ist ein vieleckiger Bau mit einem futuristisch anmutenden Kuppeldach. Auf einem der Hügel der Stadt gelegen, eingewoben in die Kakofonie von Mopeds und Marktschreiern. Roter Staub weht über das Dach und durch die drei Gärten. Den der Einheit. Den der Vielfalt. Den der Harmonie. Begriffe, die für ein "Nie wieder" stehen sollen.

Der Name wahrt Neutralität, die Ausstellung tut es nicht. Sie bedient sich aller Elemente des Persönlichen und schafft eine Intimität zwischen Besuchern und Opfern, die keine Distanz zulässt. Nichts bleibt erspart. Den Afrikanern nicht die Einzelheiten des Abschlachtens ihrer Brüder und Schwestern, damals im frühen Sommer des Jahres 1994. Dem westlichen Besucher nicht das Entsetzen über das Versagen seiner eigenen Welt, die eine zivilisierte sein will. Deren Regierungen und Repräsentanten diesem Morden erst Vorschub leisteten, dann Unterstützung gewährten.

Vor dem Genozid, während des Genozids, nach dem Genozid heißen die drei Ausstellungsteile, die in Text und Bild, mit Videoclips den Besucher durch die Geschichte Ruandas bis in die Gegenwart leiten. Und diese Führung ist ein Lehrstück über politisches und menschliches Versagen, welches auch dann noch keine Grenzen kannte, als man in Europa lange geschworen hatte, einem Völkermord nie wieder untätig gegenüber zu stehen.

Die Ausmaße der Judenvernichtung hat dieser Völkermord lange nicht gehabt, unübertroffen aber ist und bleibt er in der rasenden Geschwindigkeit und der ungebremsten Mordlust, mit der er sich vollzog. Um eine Million Tutsi und Hutu zu ermorden, brauchte der aufgehetzte und durch das Stillschweigen des Westens sanktionierte Pöbel nur knapp sechs Wochen.

Als seien die Bilder nicht genug, werden den Besuchern vier Protagonisten zur Seite gestellt, die in Videoclips ihre ganz persönliche Geschichte des Völkermords erzählen - von sich und den Menschen, die sie liebten. Dem einen waren es die Eltern, dem anderen die Frau und die Söhne, der dritten der Mann und der vierten die Schwestern. Gemeinsam mit den Kinderbildern zerbrechen diese Protagonisten den Schutz der bloßen Fakten. Vier von einer Million, das ist wenig. Doch ihr Zittern, ihr Händeringen, ihre schmerzhafte Suche nach Worten um zu beschreiben, was nicht zu beschreiben ist, reicht, um das Ausmaß des Leidens zu verstehen.

Das Memorial Museum ist nicht die einzige ruandische Gedenkstätte, die mit dem ungefilterten Horror operiert. Lange ließ man in den Kirchen, in denen die Tutsi Schutz suchten und dann dort zu Tausenden massakriert wurden, die Leichen liegen. Skelette mit papierener Haut, sichtbar die gespaltenen oder zertrümmerten Schädel. In den meisten Kirchen sind Schädel und die Knochen sorgsam in Regalen gestapelt, was das Entsetzen nicht vermindert, aber ihm durch die Ordnung unter den Toten immerhin eine fassbare Dimension gibt.

Im Kircheninneren sitzt man neben den Kleidern, die noch immer den Geruch von Verwesung aussenden. Am Ende des Rundgangs durch das Kigali Memorial sieht man Besucher in stillem Entsetzen weinen. Nicht im ersten oder zweiten Ausstellungsteil, dort herrscht noch kollektive Erstarrung in allen Gesichtern. Das Weinen beginnt erst im letzten Ausstellungsraum des dritten Teils: "Nach dem Genozid." Wenn die schon vertrauten Protagonisten von einem Weiterleben ohne Erlösung von den Erinnerungen erzählen. "Die Straßen waren mit Körpern übersät. Hunde fraßen das Fleisch verwesender Leichen. Ruanda war tot", heißt es am Ende der Geschichte, die das Museum erzählt. (Andrea Jeska, DER STANDARD - Printausgabe, 23. August 2011)