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Eine G'nackwatschn für das ÖFB-Team konnte Dietmar Constantini nicht verhindern

Grafik: derStandard.at/ballverliebt.eu; Foto: AP

Die Startformationen: Österreich bringt keinen Druck auf die Innenverteidiger und ist in der Zentrale mit den schwierigen Einzelduellen überfordert, weil Deutschland dort einfach weitere Leute hinschaufelt.

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Nennen Sie mich verrückt, aber das 2:6 Deutschland war in mancher Hinsicht nicht so schlecht. Constantini schickte seine Mannschaft mit einer Idee auf das Feld - und mit einstudierten Spielzügen. Taktik, könnte man fast sagen. Keinesfalls überbewertet. Einzig: Sie war nicht gut und ausgeklügelt genug und die Mängel wurden auch während des Spiels nicht behoben. Und da auch die Mannschaft nicht stark genug war, um das zu kompensieren, setzte es dann eben eine Watsche. Der Gegner war nämlich taktisch und personell erstes Schlagobers.

Wo die (besonderen) Herausforderungen an diesem Abend liegen würden, war schon vor dem Spiel recht offensichtlich: Die deutsche Macht im zentralen Mittelfeld mit Kroos, Özil und Schweinsteiger zu neutralisieren und vor allem auf deren linker Seite ein Mittel gegen Lahms Vorstöße zu finden. Zudem musste man sich darauf verlassen, dass Fuchs einen guten Tag erwischen würde. Constantini adressierte diese Probleme mit seiner Aufstellung. Er gab Harnik die Aufgabe, Schweinsteiger zu beschäftigen und ihn gemeinsam mit Arnautovic von Pässen aus der Abwehr abzuschneiden. Mit den beiden hochstehenden Flügeln Dag und Royer wollte er sowohl Lahm als auch Höwedes etwas zum Knobeln geben. Baumgartlinger sollte Kroos aus dem Spiel nehmen, Alaba war im Mittelfeld dazu gedacht, Özil möglichst nicht allzu viel Platz zu geben. In dieser Idee sollte Arnautovic den Unruheherd spielen, der die Innenverteidiger der Deutschen zermürbt und sie mit Forechecking vom Spielaufbau abhält.

So weit so gut und richtig. An der Feinabstimmung scheiterten die Pläne dann aber doch. Im Prinzip stellte der Trainer mehrere Spieler vor die schwierige Aufgabe, sich allein um einen Weltklassegegner zu kümmern. Fuchs gegen Müller, Alaba gegen Özil, Klein gegen Podolski - um nur einige zu nennen. Einzig Klose hatte mit den beiden Innenverteidigern zwei Gegenspieler - was die beiden wiederum davon abhielt, das Mittelfeld stärker zu unterstützen. Diese individuellen Duelle wären oft Problem genug für die Spieler gewesen, auf Dauer kann das aber gegen einen taktisch hervorragend betreuten Spitzengegner auch nicht gut gehen. Der erkennt nämlich den permanenten Stress des Gegners und versetzt ihm an den entscheidenden Stellen nicht kleine Nadelstiche, sondern heftige Stromschläge.

Aus der Formation gerissen

Deutschland brauchte über das gesamte Spiel immer wieder nur eine von zwei Erfolg bringenden Strategien anwenden:

1. Irgendeinen gerade freien Spieler ins Zentrum zu bringen, um die mit Mann- und Raumdeckung beauftragten defensiven Mittelfeldspieler Alaba und Baumgartlinger zu überfordern. Das konnte entweder ein nachziehender Innenverteidiger sein, ein die Seite verlassender Flügel oder auch ein Außenverteidiger.

2. Man ließ Özil oder Kroos auf die Seiten wandern. Alaba und Baumgartlinger mussten ihnen dorthin folgen, um eine Überzahl an den Seiten zu verhindern. Schon war in der Mitte viel Raum frei um mit Doppelpässen oder Dribblings weiterzumachen.

Manchmal kombinierte man beide Strategien auch. Wie etwa beim 3:0. Schweinsteiger zog Harnik aus dem Abwehrverbund. Dieser überzuckerte zu spät, dass für den ballführenden Badstuber nun der Weg in die Mitte frei war und konnte ihn dabei nicht mehr stören. Kroos veranstaltete nun das gleiche Spiel mit Baumgartlinger, der in der Entscheidung - attackieren oder decken? - gefangen war. Badstuber nutzte das, spielte zu Kroos, lief weiter bekam den Ball zurück und zog in später Begleitung von Schiemer Richtung Grundlinie. Schon deutlich bevor er sie erreichte, hatte Podolski gekreuzt und war damit Klein enteilt. Er erhielt den nötigen Pass und erwischte Gratzei am falschen Fuß.

Zu viele Einzelduelle gegen eine zu gute Mannschaft, das war nicht nur in der Mitte die Geschichte des Abends für die österreichische Defensive. Die ersten drei Tore entstanden aus solchen Situationen. Vor allem bei Fuchs wurde das Problem offensichtlich. Müller spielte des öfteren den klassischen Robben-Haken zur Mitte. Robben wird in der Regel gedoppelt, um das nicht zuzulassen. Fuchs blieb allerdings in diesen Situationen allein und beklagte das auch im Interview nach dem Spiel. Selbst ORF-Analytiker Herbert Prohaska bemängelte das fehlende Doppeln. Er hielt das aber seinen verwirrenden Worten gemäß nicht für eine "taktische" Schwäche. Genau das ist es aber.

Wer hoch steht, muss auch pressen

Ein Constantini-Versuch, um die Räume eng zu machen, war die Abwehr sehr hoch stehen zu lassen. Im Prinzip sah das nicht schlecht aus, aber die Deutschen entzogen sich dieser Dichte halt durch eine tief aufbauende eigene Abwehr. Die konnte nicht unter Druck gesetzt werden, ohne die Dichte aufzugeben. wenn Arnautovic oder Harnik dagegen pressten, machten Badstuber und Hummels sich einfach breit und schon war dieses Hindernis umspielt. Arnautovics Aufforderungen an die eigene Mannschaft, kollektiv nach vorne zu pressen, kam diese nicht nach, weil sie mit anderen Aufgaben beschäftigt war. Irgendwann sparte auch er sich die leeren Meter und half einfach weiter hinten aus (womit er den ersten Treffer der Österreicher dann nicht nur erzielte, sondern auch ganz hinten einleitete). Insofern war die Strategie der Österreicher zu abwartend und inkonsequent, um Wirkung zu zeigen.

Wenn die Österreicher selbst im Ballbesitz waren, drückten die Deutschen hingegen immer vorbildlich. Das Problem des heimischen Fußballs ist seine Liga, und in diesen Spitzenspielen bekommt man das besonders eklatant präsentiert. Alle Spieler die nicht (Klein, Schiemer) oder noch nicht lange (Royer, Baumgartlinger) im Ausland agieren, kommen durch temporeiches Pressing stark unter Druck und werden diesbezüglich auch als Schwachstellen angebohrt. All diese Spieler haben das prinzipielle Potential, dieses Hindernis zu überwinden, dazu brauchen sie aber regelmäßig mehr internationale Spiele. Dass auch Klein für das kommende Jahr ans Ausland denkt, ist also eine gute Sache. Wenn Schiemer (der dank guter Grundfertigkeiten eh noch am besten mit der Steigerung klar kommt) den Sprung nicht schafft, sind mit Scharner, Prödl und Dragovic andere zur Stelle. Baumgartlinger und Royer werden - selbst wenn sie sich nicht ganz durchsetzen sollten - in einem Jahr einen großen Schritt gemacht haben. Für heute muss man sehen, dass ein auf allen Positionen topp besetzter Gegner in guter Form die Mannschaft über diese Schwachstellen einfach kriegt - besonders wenn sie taktisch nicht maximal entlastet werden.

Die Details, die Mut machen

Wenn man dann doch einmal Zeit für einen Spielaufbau hatte, zeigten sich Ansätze von Ideen. Besonders gut zu beobachten war eine Variante bei Abstößen. Das hohe Vordreschen funktioniert bei Österreichs Team fast nie zufriedenstellend, weil man Schwierigkeiten hat, den Ball zu behaupten. Meist muss einer der großen Stoßstürmer dort ein Wunder vollbringen und hat kaum Spieler rund um sich. Diesmal war aber ein technisch beschlagener Spieler wie Arnautovic die Anspielstation und in mehreren Situationen (u.a. Minute 6, 17 und 36) waren bereits drei Leute (Dag, Harnik, Royer) darauf aus, seine Weiterleitung zu nutzen. Gut funktioniert hat das beim ersten Versuch, als Harnik in letzter Sekunde am Einschießen gehindert wurde. Beim zweiten Mal zeigte sich hingegen auch gleich die Gefahr. Arnautovic konnte den Ball nicht weiterleiten und die Deutschen hatten damit bereits drei Gegenspieler hinter sich. Zum Glück spielten sie den Gegenstoß zu ungenau aus.

Im Ballbesitz wollte Constantini die Deutschen über die Flügel kriegen. Wenn das Spiel bei den Außenverteidigern begann, funktionierte das nicht, weil es zu wenig überraschend war. Das DFB-Team zerstörte diesen Aufbau schon im Ansatz mit oft vier aber auch bis zu sechs Spielern. Um sowohl den Außenverteidigern als auch den Flügelspielern die Möglichkeit zum Aufrücken zu geben, sollte vor allem Alaba immer wieder die Abwehrreihe als dritter Mann im Bunde außen ergänzen. Bei beiden Treffern blieb Alaba hinten und befreite damit zumindest einen Außenverteidiger. Beim ersten Treffer kam sogar eine (etwas glückliche) Spielverlagerung von Fuchs auf Klein dazu - da blieb auch Dag hinten. Beim zweiten Treffer war dann auch etwas Ballglück und ein kleiner Geniestreich von Arnautovic dabei. Nicht zu vergessen ist natürlich, dass die Gastgeber bei beiden Treffern bereits einen Gang zurückgeschaltet hatten - etwas, das sie sich gegen das heutige ÖFB-Team auch nur erlauben können, wenn sie bereits deutlich führen.

Dieser Ansatz eines Aufbaus ist durchaus nicht uninteressant, zumal Alaba (der ja eh nahezu jede Position außer Innenverteidiger und Stürmer erstklassig besetzen kann) aus dieser tiefen Position dann auch für den ein oder anderen überraschenden Vorstoß starten kann. Ein wesentliches Problem war aber klarerweise, dass man viel zu selten in die Verlegenheit kam, überhaupt den Ball zu haben. Vor allem, solang das Spiel noch nicht entschieden war. Nach nicht ganz 25 Minuten zeigten die Anzeige unglaubliche 80 Prozent Ballbesitz für Deutschland an. Das österreichische Spiel war ganz klar auf Konter angelegt, die dazu nötigen Balleroberungen gab es aber aus den bereits angesprochenen Mängeln im Pressing viel zu selten. Der Verzicht darauf ist umso unverständlicher, als das Tor im Heimspiel ja allen Grund dafür gegeben hätte, dieses Mittel verstärkt einzusetzen, weil das den Deutschen offensichtlich mehr Probleme bereitet, als einen kompakt wartenden Gegner zu zerpflücken. Von der Bank kam dieser Impuls leider weder personell noch in in Form von Anweisungen.

Wer nicht vollen Herzens gewinnen will, wird abgeschossen

Welche Pläne die Österreicher in der Pause auch gefasst haben mögen, sie wurden schnell zerstört. Nach einer ÖFB-Standardsituation droschen die Deutschen den Ball vor, Klein sah Müller dabei zu, wie er den lange in der Luft befindlichen Ball weiterköpfelte und gegen Özil gab es dann kein Halten mehr. Österreich schaffte zwar den bereits erwähnten nächsten Treffer und hatte dann auch gleich noch eine Chance über links (52.), doch Harnik setzte den schwierigen Volley nach Alabas Flanke daneben. Unmittelbar danach gab es noch einen Angriff der Deutschen, die diesmal mit Boateng in der Mitte Übergewicht herstellten. Seine Flanke auf den von Klein unbelästigten Podoslki nagelte dieser aufs Tor, aber der an diesem Abend von kleineren Fehlern und Unglück gebeutelte Gratzei parierte (wie auch bei Podolskis Schuss vor der Pause) glänzend.

Nach dem Tor aufgeschreckt, schaltete Deutschland nach einer Stunde zwar nicht ab, aber doch wieder merkbar zurück. Sie kamen damit weiter zu so mancher Chance, auch weil Österreich nicht ausreichend daran interessiert schien, das 4:3 zu erzielen (obwohl ein Punkt einen wesentlichen Unterschied in der Qualifikation machen hätte können und eine höhere Niederlage beinahe vollkommen egal war). Mit dem Spielstand war man gut bedient und so wurde der Ball von beiden Teams viel in der Abwehr hin- und hergeschoben. Harnik und Arnautovic tauschten zwar die Positionen, frische Kräfte kamen von der Bank aber erst nach 70 Minuten - und auch mit Hoffers Einwechslung für Royer änderte sich am System nichts, weil Harnik und Arnautovic nun einfach endgültig ins zu tief stehende Mittelfeld integriert wurden und Hoffer weiterhin als alleiniger Stürmer auf verlorenem Pressingposten stand.

Deutschland ließ den Österreichern am Ende etwas Platz, weshalb es zu einigen Halbchancen und Angriffsbemühungen reichte. Davon ermutigt schalteten sich mehr ÖFB-Kicker ins Angriffsspiel ein. Dass damit die Abwehr endgültig Tür und Tor für Konter öffnete war in dieser Phase in Ordnung. Löw brachte gegen den drohenden Schlendrian Schürrle für Podolski (74.) und etwas später auch noch Götze für Kroos (85.). Beide wollte sichtbar aufzeigen und sorgten in der kurzen Einsatzzeit noch einmal für Probleme und Tore (84., 88.). 

Fazit

Das mehrfache Ansehen eines Spiels ist oft interessant. Im Rückblick sehen Dinge anders aus, als in der Originalchronologie. Im Hinspiel täuschte die Erinnerung, weil die Österreicher dabei viel besser weg kamen, als sie waren. Im Rückspiel sieht das Spiel beim zweiten und dritten Ansehen über weite Strecken hingegen etwas besser aus, als es sich nach dem Abpfiff anfühlte.

Sicher ist: Österreich hat sein Potential wieder einmal nicht ausgereizt. Es wurden von fast allen Beteiligten Fehler gemacht. Das vermeintliche "Vorhaben Sensation" ist damit unmöglich. Klar ist aber: In Deutschland kann man verlieren und man kann auch ohne Schande hoch verlieren und es wäre sogar verzeihbar, wenn man dabei eben nicht an seine Grenzen gehen kann. Die Österreicher waren den Gastgebern in allen Belangen unterlegen und es bereitet kaum Mühe, das zu akzeptieren, denn der WM-Dritte ist einer der Favoriten auf den EM-Titel.

Das tatsächliche Übel ist, dass das überhaupt ein Entscheidungsspiel war. Wegen unnötig vergeigter anderer Spiele, musste man in Gelsenkirchen gewinnen (bzw. wegen dem belgischen Umfaller dann zumindest ein Remis erreichen). Und dafür wählte man einfach nicht die richtige Strategie. Dem Konzept fehlte der Mut. Man überließ Löws Truppe das Kommando. Die war diesmal in Hochform und ist dann nur mit einer optimalen Leistung und etwas Glück erreichbar. Schnell hatte sie die entscheidenden Probleme ihrer Gäste ausgemacht und ausgenutzt.

Constantini schien bei 4:2 zu spekulieren, dass das Ergebnis das Gesicht wahren ließe. Die letzten beiden Gegentore straften diese Spekulation. Auch wenn man sich 70 Minuten verkriecht, kann man gegen Spitzenteams eben ordentlich auf die Nase fallen. Auch hoffnungslose Spiele muss man gewinnen wollen.

Seine Taktik funktionierte nicht wie gewünscht und er zeigte, als das längst ersichtlich war, auch keine Reaktion darauf. Es gab keinen Systemwechsel, um die Mitte zu stärken (Vielleicht mit einem 4-3-3? Siehe unser Gedankenspiel). Keine Verstärkung, die doch noch Offensivpressing erlaubt hätte. Kein letztes Aufbäumen, als die Deutschen etwas nachlässig wurden. Ein Hindernis dabei war natürlich auch, dass der ÖFB mit Jankos verletzungsbedingtem Ausfall plötzlich nur noch zwei echte Stürmer im Kader hatte und auf zahlreichen Positionen viele (hinreichend bekannte) Alternativen vergrault hat. Das sind Fehler, die schon lange vor Freitag gemacht wurden. (tsc, derStandard.at, 3.9.2011)