Alphonse Thorsch in seinem Arbeitszimmer: Der Schreibtisch gehörte einst Metternich und ist, wie die Bibliothek, seit 1938 verschollen.

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Angela Hartig (79), geboren in Wien, ist Hausfrau, Hobbykünstlerin und Mutter zweier Kinder.

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Die um Wiedergutmachung kämpfende Enkelin des Bankiers, Angela Hartig, erzählt Thomas Trenkler über Flucht und Exil.

STANDARD: Ihr Großvater, der Bankier Alphonse Thorsch, bewohnte mit seiner Frau Marie ein riesiges Palais in der Metternichgasse. Haben Sie noch Erinnerungen daran?

Hartig: Natürlich! Das war ein Schlaraffenland. Wir waren einmal in der Woche zum Mittagessen bei den Großeltern. Und es gab immer ein phänomenales Weihnachtsfest. Ich erinnere mich noch heute an den Geruch der Kekse und an den riesigen Baum.

STANDARD: Beim Einmarsch Hitlers waren Sie etwas mehr als sechs Jahre alt. Was passierte da?

Hartig: Mein Großvater hatte fünf Töchter, aber keinen Sohn. Meine Mutter, Hetty Overhoff, nahm ein bisschen diese Position ein. Sie war eine unglaublich starke Frau, eine Kämpferin und zeitlebens an Politik interessiert. Sie hat geahnt, dass schreckliche Zeiten kommen werden. Sie warnte alle: "Ihr müsst euch vorbereiten auf die Flucht, die Nationalsozialisten werden uns umbringen!" Kein Mensch hat ihr geglaubt. "Du übertreibst!", sagte man, "du bist hysterisch". Sie ließ sich aber nicht abbringen. Bereits am 11. März 1938 packte sie meinen Bruder Mario, unsere Kinderfrau Teta und mich: "Wir fahren nach Ungarn zum Peter Doczy." Er war ein angeheirateter Cousin von Mami. Ich erinnere mich noch ganz genau: Wir sind in der Nacht mit dem Auto nach Ungarn gefahren, aber die Grenze war schon zu, wir kamen um zwei Stunden zu spät.

STANDARD: Ihr Vater Willi Overhoff war nicht dabei?

Hartig: Er war beruflich in Prag. Denn die Firma Julius Overhoff hatte dort eine Dependance.

STANDARD: Wie ging es weiter?

Hartig: Wir sind um drei Uhr in der Früh nach Wien zurück. Und mit dem nächsten Zug sind wir in die Schweiz gefahren. Er war voll mit Menschen, die fliehen wollten. Meine Mutter nahm nur ihren Schmuck mit - und die Skiausrüstung. An der Grenze mussten wir fünf Stunden warten. Die Menschen warfen ihre goldenen Tabatieren und andere Wertsachen aus dem Fenster, um nicht als Flüchtlinge aufzufallen. Ich hab mit den jungen Nazis herumgeblödelt, das hat vielleicht geholfen. Denn sie haben meine Mutter gefragt, warum sie ausreisen will. Sie sagte: "Wir gehen Skifahren nach St. Moritz." Da durften wir wieder einsteigen. Der Zug fuhr los, wir waren in Freiheit.

STANDARD: Ihre Großeltern waren bereits in Zürich, weil Alphonse Thorsch eine Rede vor dem Völkerbund gehalten hatte.

Hartig: Richtig. Mit dabei war auch ihre jüngste Tochter Dody, also Dorothea. Meine Mutter hat sofort versucht, ein Visum für England zu bekommen. Und mein Großvater hat alles getan, um sein Vermögen auf Nummernkonten im Ausland verschwinden zu lassen, damit die Nazis nicht darauf zugreifen können. Er sollte mit seiner Ahnung recht behalten: Am 31. März wurde das Bankhaus M. Thorsch & Söhne in Wien beschlagnahmt.

STANDARD: Was passierte mit den anderen Töchtern der Großeltern?

Hartig: Gabi, verheiratet mit Arthur Goldschmidt, lebte in Mähren. Clarisse Pierer von Esch bekam genau zu Hitlers Einmarsch in Wien ein Baby. Ihr Mann Edi, ein "Arier", hatte deutschnationale Freunde, daher waren sie nicht unmittelbar gefährdet. Auch Tante Eva, mit dem "arischen" Baron Kurt Paümann verheiratet, glaubte Mami nicht: "Wozu sollen wir wegfahren?" Eine Woche nach dem Einmarsch kam die Gestapo in die Metternichgasse. Die Haushälterin rief Eva an: "Frau Baronin, die räumen das Haus aus! Was soll ich machen?" Eva ist sofort hinüber ins Palais - und steckte den Schmuck meiner Großmutter ein. Ungeschickterweise ließ sie die leeren Etuis liegen. Das fiel der Gestapo natürlich auf.

STANDARD: Ihre Tante wurde wenig später verhaftet.

Hartig: Ja. Da war die Hölle los. Es wurde hin und her telefoniert. Onkel Edi kam in die Schweiz, er erhielt von meinem Großvater Instruktionen, und dann fuhr er mit Doktor Pestalozzi, dem Schweizer Finanzverwalter und Rechtsanwalt meines Großvaters, zurück nach Wien. Sie hatten einen Koffer mit Bargeld dabei, um eine Vielzahl von Beamten und Nazi-Kontaktleuten zu bestechen. Erst nachdem eine enorme Summe, 13 Millionen Franken, bezahlt und der Schmuck an die Gestapo ausgehändigt worden war, wurde Tante Eva am 28. Mai freigelassen.

STANDARD: Woher wissen Sie das?

Hartig: Mein Großvater hat nie mit seinen Töchtern über Geld geredet, in dieser Hinsicht war er ein Macho. Aber er hat sich zum Beispiel mit seinem Neffen Rudi Gutmann oder Heinrich Treichl, seinem Großneffen, besprochen. Heinrich gab darüber später eine eidesstattliche Erklärung ab.

STANDARD: Wie ist es Ihrer Tante in der Haft ergangen?

Hartig: Sie war zuerst im Hotel Metropole eingesperrt und dann in der Rossauer Kaserne. Sie hat nie darüber geredet, aber es müssen schreckliche Sachen passiert sein. Laut meiner Mutter hat sie die Haft nie überwunden.

STANDARD: Ihre Tante konnte danach ausreisen, ohne Reichsfluchtsteuer zahlen zu müssen.

Hartig: Ja, sie bekam sogar einen Pass samt Ausreisegenehmigung für sich und ihre Kinder. Sie blieb noch ein paar Wochen in Wien - und reiste am 2. Juli mit ihren Kindern nach Zürich. Drei Tage später folgte ihr Clarisse.

STANDARD: Am 11. Juni wurde die Bank einer Kommissarischen Verwaltung übergeben und in der Folge liquidiert. Die Nationalsozialisten versuchten nun, auf die ausländischen Konten zuzugreifen.

Hartig: Ja, aber die Banken in Zürich gaben das Geld nicht heraus. Die Nazis haben sogar einen Prozess angezettelt. Aber der Oberste Gerichtshof lehnte die Herausgabe ab. Solange es die Gerichtsverhandlungen gab, waren die Schweizer Konten natürlich gesperrt. Weil meine Großeltern von der Situation überfordert waren, ging meine Mutter nach London, um unsere Einreise zu ermöglichen. Auch mein Vater kam von Prag nach England, er arbeitete dann im War Office in Whitehall beim Secret Service. Das genügte natürlich nicht für eine Einreisegenehmigung, also überlegte meine Mutter, was sie tun könnte. Sie sagte immer: "Ich kann nichts, nicht einmal Kochen, aber ich kann Bridge spielen." Bridge hat ihr die Türen zur Gesellschaft und zur Politik geöffnet. Spielen Sie Bridge?

STANDARD: Nein, leider.

Hartig: Sie müssen damit anfangen! Mami kannte in London keine Menschenseele. Aber mit Bridgespielen gelangte sie in einflussreiche Kreise. Sie schaffte es, dass die Familie eine Aufenthaltsbewilligung bekam. Und später bekamen wir ein Visum für Kanada. Können Sie sich vorstellen, wie schwierig es war?

STANDARD: Wann verließen Sie England?

Hartig: Zuerst muss ich noch etwas Wichtiges erzählen: Mein Großvater hatte ein großes Vermögen in England, vor allem in Goldbarren. Er hielt das für das Sicherste. Die Nazis versuchten natürlich, an das Gold heranzukommen. Aber auch dieser Versuch misslang. Als dann im Sommer 1940 der Battle of Britain begann, wurde das Gold beschlagnahmt, es kam in die Schatzkammer. Plötzlich waren wir "Friendly Aliens of Enemy Nationality". Mein Vater wurde von einem Tag auf den anderen in ein Internierungslager, Camp Orange, nach Australien gebracht. Trotzdem war meine Mutter den britischen Behörden unendlich dankbar dafür, dass man uns aufgenommen hatte. Sie baute eine Hilfsorganisation auf, den Austrian Womens Voluntary Service. Dort arbeiteten 200 Flüchtlingsfrauen aller gesellschaftlichen Schichten als Näherinnen, Krankenpflegerinnen, Busfahrerinnen usw., um sich bei der englischen Regierung für das gewährte Asyl zu bedanken. Meine Mutter wurde dafür vom Königshaus ausgezeichnet.

STANDARD: Und sie hat es geschafft, dass Sie ausreisen konnten.

Hartig: Ja, sie organisierte alles, auch die Überfahrt auf einem Bananendampfer. Zuerst reisten die Großeltern und Dody, ein paar Monate später der Rest der Familie, insgesamt 17 Personen. In Neufundland kamen wir genau an dem Tag an, an dem die Japaner Pearl Harbor angegriffen haben, also am 7. Dezember 1941. Wir sind nach Montreal. Meine Mutter hat dann für die Regierung gearbeitet: In der Zensurbehörde kontrollierte sie die Korrespondenz der Kriegsgefangenen. Einmal stieß sie auf einen sonderbaren Brief. Darin schrieb eine Frau aus Deutschland an ihren Neffen, dass bei ihr am Land eine riesige Anlage betoniert werde, über die sich alle ärgern würden. Meine Mutter meldete das - und zwei Tage später wurde diese Anlage von den Engländern bombardiert. Es war eine V2-Basis.

STANDARD: Sie blieben auch nach dem Krieg in Montreal?

Hartig: Nein, meine Mutter bildete sich ein, dass wir nach Ottawa müssten. Denn dort, in der Hauptstadt, war das gesellschaftliche Leben. Meine Großmutter starb am 24. August 1944, mein Großvater am 30. November 1945. Mami ist unmittelbar nach Kriegsende nach Wien gegangen, um nach unseren gestohlenen Sachen zu suchen. Die Immobilien wurden zurückgegeben, auch ein Teil der Bilder. Aber das Mobiliar blieb verschwunden, darunter Metternichs Schreibtisch, der meinem Großvater gehört hatte, die Bank, die riesige Bibliothek, das ganze Tafelsilber, die Gobelins und so weiter. Meine Mutter kämpfte bis an ihr Lebensende 1985 um Gerechtigkeit, leider weitgehend vergeblich. Ich selbst bin 1952 zurückgekommen und trete jetzt in ihre Fußstapfen. Das jahrzehntelange Unrecht muss endlich wieder gut gemacht werden. (Thomas Trenkler, DER STANDARD - Printausgabe, 8./9. Oktober 2011)