Stéphane Hessel (M.) mit Ex-Kulturstadtrat Helmut Strobl (li.) und Christian Wabl.

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Die Grazer kamen zahlreich, um dem 94-jährigen Hessel zu lauschen.

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Stricken gegen die soziale Kälte auf dem Mariahilferplatz.

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Mit dem gestrickten Material waren gegen Abend bereits ein Drittel beider Brückengeländer über der Mur mit Wolle verkleidet.

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Aktionismus gegen das Finanzsystem.

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Auf Broker-Zurufe wie "Es ist zu viel Gemüse auf dem Markt!" wurden Zucchini, Karotten und Äpfel mit dem Beil bearbeitet, bis die Menge auf dem Mariahilferplatz ausweichen musste.

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Vom "Tag der Empörung" wird in Graz auf jeden Fall etwas bleiben.

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Graz - Langsam verwandelt sich das improvisierte Wohnzimmer mit den gemütlichen Polstermöbeln in ein Schlachtfeld. Zuerst wird aus dem Couchtisch mit der Axt Kleinholz gemacht, dann werden Lebensmittel zerstört. Auf Broker-Zurufe wie "Es ist zu viel Gemüse auf dem Markt!" werden Zucchini, Karotten und Äpfel mit dem Beil bearbeitet, später Milch und Joghurt, bis die Menge den umherspritzenden Stücken auf dem Mariahilferplatz ausweichen muss. Der Platz, wo diese Veranschaulichung von Lebensmittel- und Ressourcenzerstörung statt fand, war am Samstag das Zentrum des "Tages der Empörung" in Graz. Die Plattform 25, eine Bürgerprotestbewegung, der sich seit dem Frühling, als die steirische Landesregierung ihr Kürzungsbudget präsentierte, über 600 Organisationen und Vereine, Gewerkschaften, KPÖ, Grüne und Teile der Grazer SPÖ angeschlossen haben, beteiligte sich mit über 30 Aktionen, die den ganzen Tag auf mehreren Plätzen und drei Brücken spielten, am internationalen Protesttag.

Das Angebot, über das man in der gesamten Innenstadt stolperte, reichte von skurril über kreativ bis hochpolitisch. Bestaunt wurde die "Globale Vermögenskurve XXL", mit der Attac eine Linie von Fußgänger- und Fahrradbrücke Mursteg quer über den Mariahilferplatz zog: Hier konnte man in Zentimetern und Millionen ablesen, wie das Einkommen in der Welt verteilt ist, wo Österreich steht (ein paar Meter von der Mariahilferkirche entfernt) und wie schließlich die Kurve fast senkrecht auf den Kirchturm in luftige Höhen der Milliardäre ansteigt. Auch Umweltschützer wie die Initiative "Rettet die Mur!", die gegen den Verbau des Flusses mit Kraftwerken kämpfen, und die IG Kultur machten ihrem Ärger Luft.

Kampfstrickerinnen gegen soziale Kälte

Während die Werkstatt für Theater und Soziokultur Interact Strategien zur Krisenbewältigung durchspielte, bekochte die Volxküche des Vereins Spektral die heterogene Menschenmenge, in die sich ganze Familien mischten, um abwechselnd Reden und Konzerten zu lauschen . Im Vereinslokal des Spektral am Lendkai, einige hundert Meter vom Platz entfernt, durfte, wer die Schuhe aus- und Pantoffel anzog, mit Attac und der Arge Geld, darüber diskutieren, woher das Geld und woher die Schulden kommen oder Videos von Heinz Trenczak, dem Theater im Bahnhof und Josef Hader sehen.

Noch etwas weiter stadtauswärts sorgten kampfstrickende Frauen - aber auch Männer - dafür, dass die dreispurig befahrene Keplerbrücke zu einem "kuscheligen" Zufluchtsort gegen soziale Kälte wurde. Mit dem gestrickten Material waren gegen Abend bereits ein Drittel beider Brückengeländer über der Mur mit Wolle verkleidet. Die Aktion von Leni Kastl, die auf Benachteiligungen der Frauen durch Kürzungen im Sozial- und Pflegebereich aufmerksam machen soll, bleibt ein Monat lang bestehen. Auf der Hauptbrücke, wo zwischen Hauptplatz und Kunsthaus die Liebesschlösser in der Sonne glitzern, waren Sofas aufgestellt, wo Passanten spontan Platz nahmen um über die Krisen des Kapitalismus zu reden.

Tanzen statt reden

Andere tanzten lieber: Die Gruppe Dancerevolution etwa, die sich eineinhalb Stunden vom Hauptbahnhof bis zum Mariahilferplatz durchtanzte. Dort lieferte inzwischen der kommunistische Betriebsrat des Magna-Werks, Peter Scherz, einen Stimmungsbericht von seinen streikenden Kollegen, "die im Sozialbereich sitzen und politisch diskutieren" und nicht nachgeben würden, sei doch die Forderung der Metaller "für die Wirtschaft ein Klacks". Tosender Applaus.

Bis zum Abend sammelten sich dann alle am Mariahilferplatz, wo der Startgast von den Sprechern der Plattform 25, Yvonne Seidler und Gerhard Zückert, erwartet wurde: Der 94-jährige ehemalige Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel, dessen Pamphlet "Empört Euch!" mittlerweile zwei Millionen Mal verkauft und selbst ins Südkoreanische übersetzt wurde. Er verbrachte durch die Vermittlung des ehemaligen VP-Stadtrates Helmut Strobl diesen Tag in der einzigen europäischen Stadt mit dem Titel "Stadt der Menschenrechte". "Vielleicht wird sie ja auch irgendwann wirklich eine solche", merkte Strobl, auf dessen Betreiben gemeinsam mit Ex-Bürgermeister Alfred Stingl (SP) sich die Stadt einst diesen Titel zur Aufgabe machte, etwas bitter an. Der 68-jährige Ex-Politiker unterstützt mittlerweile den Protest der Plattform 25.

Stéphane Hessel hatte sich zuvor am Nachmittag in das Goldene Buch der Stadt im Rathaus eingetragen. Als der ehemalige Diplomat, der 1948 Mitverfasser der Erklärung der Menschenrechte war, schließlich das Wort am Platz ergriff, hörten ihm über 1000 Menschen zu. "Ich habe Eure Stadt Graz so lieb", begann Hessel, der nicht zum ersten Mal hier war, und lobte den Widerstand der Bürgerplattform gegen das erste Sparbudget in Österreich seit der Bankenkrise. Hessel erinnerte an das, was Demonstranten gerade in New York skandierten: "Wir sind 99 Prozent!" Es könne nicht so weiter gehen, dass manche Menschen 200 Millionen Dollar verdienten und ihnen das noch nicht genug sei, während andere mit zwei Dollar auskommen müssten. "Habt Vertrauen! Auch wenn es manchmal so aussieht, als könnte man nichts ändern - die Wahrheit ist: Das stimmt nicht", schloss der Mann mit dem freundlich-kämpferischen Gesicht.

Später am Abend bekam noch ein kleiner Platz zwischen den Beisln "Exil" und "Scherbe" in der Nähe des Mariahilferplatzes einen Namen: Er heißt ab sofort "Platz für Alle". (Colette M. Schmidt, derStandard.at, 16.10.2011)