Die Zahl der Lehrlinge, die eine Berufsreifeprüfung oder Matura machen, steigt.

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Die Berufsreifeprüfung wurde 1997 eingeführt, um den Zugang zu höheren Bildungsabschlüssen und die soziale Durchlässigkeit des österreichischen Bildungssystems zu verbessern. Sie ermöglicht eine allgemeine Studienberechtigung und ist der Matura an höheren Schulen vollkommen gleichwertig. Berufsmaturanten haben damit uneingeschränkten Zugang zum Studium an österreichischen Universitäten, Fachhochschulen, Kollegs und Akademien. Nicht nur Lehrabsolventen können die Matura nachholen, auch für Absolventen von dreijährigen berufsbildenden mittleren Schulen, Krankenpflegeschulen und Schulen für den medizinisch-technischen Fachdienst mit mindestens zweieinhalb-jähriger Ausbildungsdauer steht die Berufsreifeprüfung offen.

Auch während der Lehrzeit möglich

War die Berufsreifeprüfung ursprünglich noch an den Lehrabschluss gebunden, gibt es seit dem Jahr 2008 durch eine Novelle des Berufsreifeprüfungsgesetzes die Möglichkeit, schon während der Berufsschulzeit Teilprüfungen abzulegen. Mit dem kostenlosen Förderprogramm "Berufsmatura" können Lehrlinge drei der vier Teilprüfungen in den Fächern Deutsch, Mathematik, Englisch und dem jeweiligen Fachbereich bereits vor der Lehrabschlussprüfung absolvieren. Die letzte Teilprüfung kann aber wie bisher erst mit Erreichen des 19. Lebensjahres abgelegt werden.

Die kostenlosen Vorbereitungskurse zur Berufsreifeprüfung wurden ins Leben gerufen, um "mehr Lehrlinge zur Matura zu führen", sagt Brigitte Eberhard, Leiterin der Beratungsstelle "Berufsmatura Wien", die vom KUS-Netzwerk für Bildung, Soziales, Sport und Kultur der Wiener Berufsschulen koordiniert wird. Die Bundesregierung will bis 2020 den Anteil von Lehrlingen, die die Berufsreifeprüfung absolvieren, von zwei auf zehn Prozent erhöhen.

Abends nach der Arbeit in die Schule

Wer sich dazu entschließt, gleichzeitig Lehre und Berufsmatura in Angriff zu nehmen, hat ein dichtes Programm. Es müssen vier Hauptmodule zu je 180 Unterrichtseinheiten absolviert werden, davor je nach Kenntnisstand drei Basismodule zu je 16 Unterrichtseinheiten, hinzu kommen Prüfungsmodule und Tutorien. Jedes Hauptmodul dauert dabei mindestens drei Semester und findet einmal wöchentlich statt, pro Jahr kann ein Gegenstand gewählt werden. "Es dauert mindestens dreieinhalb, im Durchschnitt viereinhalb Jahre, bis man die Berufsmatura abgeschlossen hat", erzählt Eberhard. Der Einstieg ist schon ab dem ersten Lehrjahr möglich, das Lehrzeitende muss dabei aber mindestens eineinhalb Jahre in der Zukunft liegen.

Dabei drücken die angehenden Berufsmaturanten überwiegend abends nach der Arbeit die Schulbank, zusätzlich zum Berufsschul-Unterricht. Im Gegensatz zu den Berufsreifeprüfungs-Vorbereitungskursen, die nach Lehrabschluss besucht werden können und analog zur Externistenprüfung eine formelle Antragstellung an höheren Schulen erfordern, erfolgt die Anmeldung zur Berufsmatura über die Berufsschule. Den Lehrlingen sollen keine zusätzlichen bürokratischen Hürden auferlegt werden.

Mehr Geld und bessere Karrierechancen

Dass die Berufsmatura nicht mit Kosten verbunden ist, schafft zusätzlichen Anreiz. Für die 20-jährige Kerstin, ehemalige HTL-Schülerin, die gerade eine Lehre zur Elektro-Anlagen-Technikerin macht, wäre eine Abendschule nach der Lehre mit zu viel Aufwand verbunden und zu teuer gewesen. "So hast du alles hinter dir", meint sie. Auch ihr Kollege Patrick will mit 21 Jahren keine Zeit mehr verlieren und so schnell wie möglich die Berufsreifeprüfung, am liebsten zeitgleich mit der Lehrabschlussprüfung, abschließen, um danach an der Technischen Universität oder an einer Fachhochschule zu studieren.

Die beiden besuchen seit September einmal in der Woche von halb sechs bis abends neun Uhr den Vorbereitungskurs an der Berufsschule für Einzelhandel II in Wien Rudolfsheim-Fünfhaus. Auch die 16-jährige Sarah, die nach dem Abbruch des Gymnasiums eine Lehre als Verwaltungsassistentin begonnen hat, drückt hier abends die Schulbank. Für sie stellt die Berufsmatura einen schnellen Weg dar, eine Karriere im Event-Management-Bereich zu starten. Sie wolle nicht ewig im Büro sitzen und nach der Lehre die Ausbildung zur Event Managerin absolvieren, wofür sie die Matura braucht.

Der 16-jährige Thomas, ebenfalls Lehrling im Verwaltungsbereich, hat die HBLA abgebrochen, und sich dazu entschlossen, die Berufsmatura schon während der Matura zu machen, "weil das ein absolutes Basic ist und ich dann mehr Gehalt bekomm." Mit einer Matura verdiene er nicht nur "200 bis 300 Euro mehr" im Monat, sondern hätte auch Anspruch auf einen Abteilungsleiter-Posten und damit bessere Chancen die Karriere- und Gehaltsstufen-Leiter zügig rauf zu klettern.

Schulabbrecher schaffen mit Lehre und Berufsmatura den Aufstieg

Dass viele Schulabbrecher als Lehrlinge die Matura nachholen ist gar nicht so unüblich. "Zwanzig Prozent der Jugendlichen waren in einer höheren Schule", so Eberhard aus der Beratung- und Koordinierungsstelle "Berufsmatura Wien". Die meisten Teilnehmer kommen laut Eberhard aus den Sparten Büro und Einzelhandel, aber auch aus dem Handel, Gastgewerbe und dem Dienstleistungsbereich. "Seit dem Start des Berufsmatura-Programmes gibt es rund 2000 Teilnehmer, insgesamt gab es bisher 5000 Interessenten", ergänzt Eberhard.

Auch in der Volkshochschule Meidling, die Berufsreifeprüfungs-Vorbereitungskurse nach Lehrabschluss anbietet, gibt es "viele Schulabbrecher, die im ersten Bildungsweg gescheitert sind und mit dem zweiten Bildungsweg, über die Berufsreifeprüfung, die Geschichte der negativen Schulkarriere aufbrechen", erzählt Andrea Witti. Sie leitet die Berufsreifeprüfungs-Abteilung an der VHS Meidling. Pro Jahr nehmen alleine in Meidling 550 Teilnehmer an den Vorbereitungskursen teil, rund 150 Berufsreifeprüfungs-Absolventen gibt es jährlich. "Die meisten sind zwischen 20 und 28 Jahre alt, die Teilnehmer werden auch immer jünger", berichtet Witti.

Anstrengend und intensiv

Die 28-jährige Ewa Boruch aus Wiener Neustadt ist eine von den mehr als 500 Teilnehmern. Sie hat in ihrer Jugendzeit die Handelsakademie abgebrochen, "weil man als junger Mensch noch andere Dinge im Kopf hat", und danach die Krankenpflegeschule besucht. Boruch musste aber die Ausbildung wegen ihrer Schwangerschaft auf Eis legen, mittlerweile ist ihre Tochter drei Jahre alt. Die junge Mutter hat sich vor einem Jahr dazu entschlossen, die Berufsreifeprüfung zu absolvieren, "damit ich aus der Berufssparte rauskomme." Nach der Berufsreifeprüfung will sie ein Kolleg für Sozialpädagogik absolvieren, zwei Teilprüfungen hat sie bereits erfolgreich bestanden.

Karin Pöckl ist 41 und hat vor kurzem die Berufsreifeprüfung an der VHS Meidling absolviert. Davor war sie als Bürokauffrau tätig. Sie wollte auch aus dem Job, den sie schon seit dem Lehrabschluss gerne ausübte, rauskommen und sich andere Perspektiven verschaffen. Als die Firma, in der sie arbeitete, in Konkurs ging, nutzte sie den Moment. "Wann, wenn nicht jetzt, dachte ich mir", erzählt Pöckl. Über ein Stiftungsprogramm für die ehemaligen Mitarbeiter war es ihr möglich mittels Förderungen die Berufsreifeprüfung nachzuholen. Sie hat es geschafft, in einem Jahr alle vier Module, also alle Teilprüfungen, zu absolvieren. "Das war zwar sehr anstrengend, aber das Ergebnis ist es wert."

Als Jugendliche hätte sie das nicht so schnell und so gut geschafft, ist sich Pöckl sicher: "Je jünger die Leute, desto weniger diszipliniert sind sie." Pöckl und Boruch besuchen den Vorbereitungskurs am Vormittag. Für Boruch war das mitunter entscheidend, sie ist berufstätig und hat viele Abenddienste, die Kurszeiten untertags sind für sie auch besser mit der Betreuung ihrer Tochter zu vereinbaren. Den "irrsinnigen Zeitaufwand" nimmt die Mutter gerne in Kauf, es gehöre aber viel Selbstverantwortung und gutes Zeitmanagement dazu.

"Gut überlegen"

Die Berufsreifeprüfungs-Kurse nach dem Lehrabschluss sind im Gegensatz zur geförderten Berufsmatura, die vom Bund, genauer gesagt durch das Bildungsministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, finanziert wird, nicht kostenfrei. Die Lehrgänge in den drei Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik kosten an der Volkshochschule Meidling gesamt rund 1.700 Euro, für den Fachbereich, der dem Berufsbereich entsprechen muss, kommen dann rund 460 bis 630 Euro hinzu. Dazu kommen auch noch Kosten für Bücher, Unterrichtsmaterial und Prüfungsgebühren, die es beim geförderten Berufsmatura-Modell nicht zu berappen gilt.

"Es gibt aber zahlreiche Förderungsmöglichkeiten vom Wiener ArbeitnehmerInnen Förderungsfonds (WAFF). Auch der 100-Euro-Bildungsgutschein der Arbeiterkammer kann dafür in Anspruch genommen werden. Wir beraten Interessenten und Teilnehmer umgehend über die verschiedenen Fördermöglichkeiten", so Witti. Die Förderberatung ist Teil der verpflichtenden Erstberatung, bei der auch ein Bildungsplan und ein Kostenvoranschlag erarbeitet werden. "Wir unterstützen unsere Teilnehmer sehr, aber es ist auch Engagement gefordert. Vor allem bei Berufstätigen muss gut überlegt werden, welche Anforderungen und welchen Aufwand die Lehrgänge mit sich bringen", appelliert Witti.

Die Doppelbelastung Arbeit und Lernen ist nicht jedermanns Sache, rund 30 Prozent beträgt die Drop-Out-Rate. Bei der VHS Meidling sind es laut Witti "durch gutes Drop-Out-Management nur zehn bis fünfzehn Prozent." Auch Brigitte Eberhard betont, dass beim Förderprogramm "Berufsmatura während der Lehre" die Drop-Out-Rate durch "Lerncoaches", also durch pädagogische Betreuer, die individuelle Unterstützung anbieten, niedrig gehalten werde.

Das Interesse an der Berufsreifeprüfung ist trotz Doppelbelastung hoch und hat in den letzten Jahren sogar zugenommen. So nahmen laut Lehrlingsstatistik der Wirtschaftskammer Ende Mai 2011 rund 6 Prozent an Berufsreifeprüfungs-Vorbereitungskursen teil. Das Berufsförderungsinstitut BFI verlautbarte im Juli 2011, dass sie dieses Jahr um 23,6 Prozent mehr Teilnehmer beim Modell "Lehre mit Matura" haben. Nicht bei allen Arbeitgebern fällt die Freude darüber groß aus. "Sie haben Angst, dass ihnen die Lehrlinge auf die Unis verschwinden", so Eberhard. (Güler Alkan, derStandard.at, 15.11.2011)