Contergan-Geschädigte kämen langsam in die Jahre und bräuchten mehr Unterstützung, schildern
Michaela Moik (li.) und Shoshana Duizend-Jensen (re).

Foto: Standard/Robert Newald

Richtig geholfen sei den Geschädigten aber nicht worden, kritisieren zwei Vertreterinnen der in Österreich Betroffenen. Offiziell sind das nur 20 Menschen.

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Das ganz normale Leben fällt Michaela Moik mit den Jahren immer schwerer: "Ob ich etwas schreibe oder koche: Was immer ich mit den Händen mache, ich muss mich dazu extrem vorbeugen. Meine Halswirbelsäule ist laut meiner Physiotherapeutin 69 Jahre alt" , sagt die 49-jährige Contergan-Betroffene.

Ihre Arme sind nur etwa halb so lang wie die der meisten anderen Menschen, und an jeder Hand hat sie nur drei Finger: Ihre Mutter, so erzählt sie, hat Softenon, das Anfang der 1960er-Jahre gepriesene Wundermittel gegen Übelkeit in der Schwangerschaft, in deren ersten drei Monaten geschluckt .

Die Folgen der vielen körperlichen Verrenkungen, zu denen Moik wegen ihrer Einschränkungen gezwungen ist - Schmerzen, diese kann sie inzwischen oft nur durch Medikamente in Schach halten. Und die zunehmende Steifheit schränkt die Bewegungsfreiheit der vitalen, humorvollen Wienerin ein: "Ich habe mich nie als Behinderte gesehen, habe drei Kinder aufgezogen, arbeite Full-time beim Jugendamt. Aber jetzt werde ich bald 50 - und frage mich, wie es weitergeht" , sagt sie.

"Du musst dir mehr Hilfe holen", erwidert Shoshana Duizend-Jensen (50). Auch sie ist mit verkürzten Armen zur Welt gekommen, weil ihre Mutter als Schwangere zur Beruhigung Softenon genommen hatte, nachdem ihr Mann - Soshanas Vater - völlig überraschend gestorben war. Das war 1960, in einer Zeit umfassenden Vertrauens in pharmazeutische Machbarkeit. Nach dem Auftauchen der Kinder mit den sichtbaren Schäden an Armen und Beinen bekam dieses erste Kratzer.

"Getrimmt auf Leistung"

"Als Kinder waren wir etwas Besonderes. Wir wurden getrimmt auf Leistung", erinnert sich die Historikerin, Mutter zweier Kinder und Sprecherin der Selbsthilfegruppe der Contergan- und Thalidomidgeschädigten in Österreich: "Heute sind wir stolz, wie wir unser Leben gemeistert haben." Dennoch: Um den Alltag zu bewältigen, hat Duizend-Jensen von der Stadt Wien unlängst eine persönliche Assistentin zugeteilt bekommen. Und, wenn sie es sich finanziell leisten könnte, würde sie gern ein wenig früher als andere in Pension gehen.

Doch sozialrechtliche Sonderregeln für die wenigen anerkannten österreichischen Opfer eines der größten internationalen Pharmazieskandale nach dem Zweiten Weltkrieg existieren nicht. 20 Menschen gelten hierzulande derzeit offiziell als Contergan-geschädigt, neun von ihnen bekommen monatlich zwischen 240 und 1100 Euro Rente von der deutschen Conterganstiftung, die 1971 mit Geldern der Vertreiberfirma Grünenthal ins Leben gerufen und durch deutsche Bundesgelder aufgefettet wird. Duizend-Jensen geht von einer Dunkelziffer Geschädigter in Österreich aus: Das Mittel sei sehr häufig verschrieben worden. "Wir sind die vergessenen Contergan-Opfer", sagt sie.

Dem widerspricht Gerhard Aigner, Leiter der Rechtssektion im Gesundheitsministerium. "Der Staat trägt Verantwortung", meint er. 2010, unter Minister Alois Stöger (SPÖ), wurden aus dem Ministeriumsbudget 2,8 Millionen Euro für Zahlungen an Contergan-Opfer reserviert, in Ärztezeitungen Aufrufe veröffentlich, Geschädigte mögen sich melden.

60 Personen taten dies. "Um die tatsächlich Contergan-Betroffenen herauszufiltern, haben wir eine Kommission unter ärztlicher Leitung gegründet", schildert Aigner. Elf Personen seien inzwischen anerkannt worden und hätten - so wie die neun schon davor in die deutsche Stiftung aufgenommenen - je 50.000 Euro erhalten. Zwanzig Zahlungen, 50 Jahre nach Platzen des Skandals: "Ich gebe zu, der Fortschritt ist etwas zäh", sagt Aigner. (Irene Brickner/DER STANDARD, Printausgabe, 5.12.2011)