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Die Spannbreite der Misshandlungen zieht sich von körperlicher Gewalt über psychische, emotionale Formen wie Drohungen, Isolation oder Abschottung durch die Angehörigen, bis zu Vernachlässigung, rüden Umgangsformen oder grober Pflege.

Foto: APA/Hermann J. Knippertz

Genau genommen ist Gewalt gegen ältere Menschen allgegenwärtig. Sie beginnt bei der Sprache. Eigenschaften wie „überaltet" und „vergreist" kennzeichnen wenig schmeichelhaft die demographische Zukunft. Die Überalterung gilt als finanzielles, soziales oder im Pflegefall beinahe unlösbares Problem. „Das Altern an und für sich ist in unserer Gesellschaft historisch negativ behaftet. Die Diskriminierung älterer Menschen gilt in der Fachliteratur als Vorstufe der Gewalt. Nichtbeachten und soziale Isolation sind dann die Fortsetzung", sagt Charlotte Strümpel, Autorin der Studie "Breaking the Taboo (pdf)". 

Die europaweite Untersuchung beschäftigt sich mit häuslicher Gewalt gegen ältere, pflegebedürftige Menschen. In Finnland, Italien, Polen, Belgien, Frankreich, Portugal und Österreich haben die Projektpartner insbesondere die Versorgung älterer Frauen erforscht, die von Angehörigen und ambulanten Diensten betreut werden. Ein Ergebnis des internationalen Projektes sind praktische Materialien zur Bewusstseinsbildung und Schulung von Mitarbeitern. „Gewalt in der Familie ist ein Tabuthema. Betrifft sie Frauen und Kinder, gewinnt diese inzwischen schon mehr Öffentlichkeit. Es gibt Angebote wie Frauenhäuser und Hotlines", erklärt Strümpel, die für das Rote Kreuz die Projektleitung des österreichischen Studienteils innehatte. „Richtet sich die innerfamiliäre Gewalt gegen ältere, pflegebedürftige Menschen dringt sie dagegen kaum nach außen."

Doppelte Dunkelziffer

Über das Älterwerden und Sterben wird ungern gesprochen, in Verbindung mit Misshandlung wird es lieber ganz totgeschwiegen. Dass die Leiden der Älteren in der öffentlichen Wahrnehmung untergehen, zeigen auch die fehlenden Angebote. „Bis jetzt gibt es in Österreich keine Einrichtung, die sich speziell an ältere Gewaltopfer wendet. Und das in einer Gesellschaft, die immer älter wird", wundert sich Charlotte Strümpel.

Auch die Statistik schweigt. Für Österreich gibt es kaum repräsentative Daten über häusliche Gewalt gegen ältere Menschen, was von Expertin Strümpel als „doppelte Dunkelziffer" bezeichnet wird. „Die Privatsphäre in der Familie ist eine Barriere, ebenso wie der eingeschränkte Zugang zu den Betroffenen. Das führt dazu, dass Misshandlungen nur sehr selten registriert werden." Eine deutsche Umfrage hat ergeben, dass etwa 55 Prozent der befragten Sozialarbeiter und Pflegefachkräfte emotionale Misshandlungen beobachtet haben. Etwa 48 Prozent können über Fälle von Nichtbeachtung berichten. „Laut internationalen Studien gehen wir davon aus, dass etwa zehn Prozent aller älteren Menschen Gewalt und Misshandlung in ihrer nächsten sozialen Umgebung erfahren", schreiben die Autorinnen in ihrem Report. 

Die Spannbreite der Misshandlungen zieht sich von körperlicher Gewalt über psychische, emotionale Formen wie Drohungen, Isolation oder Abschottung durch die Angehörigen, bis zu Vernachlässigung, rüden Umgangsformen oder grober Pflege. „Dann gibt es noch sexuelle Gewalt, die gerade im Pflegebereich und bei älteren Menschen sehr tabuisiert ist. Wir kennen Fälle von älteren Frauen, die vergewaltigt wurden. In Abhängigkeitsverhältnissen wie der Betreuung und Pflege kommt auch finanzielle Ausbeutung dazu, bei der die Pension oder das Pflegegeld einfach verschwinden. Was immer wieder vergessen wird, aber im Pflegekontext besonders wichtig ist, ist die Verwahrlosung", schildert die Expertin. 

„Der Übergang zwischen schlechter Pflege und Misshandlung ist fließend", sagt Charlotte Strümpel, die sich beim Roten Kreuz auch mit der Ausbildung von Pflege- und Betreuungskräften beschäftigt. Laut Definition beginnt die Misshandlung mit dem „Unterlassen von Handlungen, die situationsadäquat wären". Dazu gehört beispielsweise ein Wasserglas so hinzustellen, dass es der ältere Mensch nicht erreichen kann. Oder beim Füttern zu heiße Speisen zu verabreichen.

Schweigen aus Angst

Von den Betroffenen selbst sei kein lauter Hilferuf zu erwarten, ergab die Recherche der Rotkreuz-Expertinnen: „Die Angst älterer Menschen ist groß, die eigenen Verwandten zu verraten. Charakteristisch ist, dass es zwischen Opfer und Täter ein sehr enges Abhängigkeitsverhältnis gibt. Aufgrund kultureller Einstellungen werden gewisse Dinge wiederum gar nicht als Gewalt empfunden. Dazu kommt, dass eine Demenz die Kommunikation mit älteren Menschen erschweren bis unmöglich machen kann."

Den Schlüssel zu Prävention und Hilfe für alle Betroffenen halten die Pflege- und Betreuungskräfte in der Hand. Deshalb setzt zum Beispiel das Rote Kreuz stark auf Bewusstseinsbildung bei den Pflege- und Betreuungskräften und auf Entlastung für pflegende Angehörige.
Die Pflege eines Angehörigen ist ein 24-Stunden-Knochenjob. „Wenn man fünf Jahre lang keine Nacht durchgeschlafen hat, ist es auch verständlich, dass das zur Überforderung führt", sagt Strümpel. In Österreich wird der Großteil der Pflegegeldbezieher zuhause betreut, die Familie gilt als der größte informelle Pflegedienst des Landes. 79 Prozent der Pflegenden sind weiblich. 

Prävention in Kinderschuhen

Die Überforderung der Angehörigen kann zu problematischen Situationen führen. Wenn der Patient durch einen Schlaganfall oder durch Demenz sein Verhalten ändert und selber sehr „schwierig" wird, sollte der Betreuende Handlungsalternativen kennen oder sich Hilfe holen. „Die Pflege- und Betreuungsdienste des Roten Kreuzes sind auch für die Angehörigen da. Es gibt viele unterstützende Angebote, die es ermöglichen, Urlaub zu machen oder kurzfristig weg zu gehen", betont Strümpel.

Prävention ist also möglich, steckt aber noch in den Kinderschuhen. Ähnlich unterentwickelt sieht es mit der gesetzlichen Hilfe für pflegebedürftige Gewaltopfer. „Im Fall häuslicher Gewalt greift die Wegweisungsregelung, die besagt, dass der Täter für eine bestimmte Zeit seine eigene Wohnung nicht betreten darf", erklärt Charlotte Strümpel. Dieses österreichische Gesetz gilt im internationalen Kontext als beispielhaft, im Pflegefall ist es aber schwierig umzusetzen. Ist die Pflegeperson nämlich der Täter, dann ist in weiterer Folge auch die Pflege nicht mehr gesichert. Die Experten fordern daher gute außerhäusliche Optionen. „Denn um einen älteren Menschen aus einer Gewaltsituation zu befreien, kann die einzige Alternative keine Pflegeinstitution sein, der die Expertise im Umgang mit älteren Gewaltopfern fehlt", ergänzt Strümpel abschließend. (derStandard.at, 06.12.2011)