STANDARD: Ist Zeit eine Ressource?

Geißler: Genau gesehen, ist Zeit keine Ressource. Zeit ist so wenig oder wenn Sie wollen so viel eine "Ressource wie das Leben selbst eine ist. Alles, was man der Zeit antut, tut man sich selbst an. Was nichts anderes heißt als: Diejenigen, die die Zeit ausschließlich als Ressource ansehen und sie wie eine Ressource ausbeuten, beuten sich selbst aus. Soweit ein wenig Grundsätzliches zur Zeit. Anders stellt sich die Sache aus der Perspektive der ökonomischen Systemlogik dar. Da ist Zeit selbstverständlich eine "Ressource" . Bringen wir nun das eine mit dem anderen zusammen, dann tun wir gut daran, diese Definition der Zeit auch nur im Rahmen ökonomischer Betrachtungen zu verwenden. Geht's um Kultur, Kunst, Politik oder um Bildung und Erziehung, ist der Ressourcenbegriff fehl am Platz. In der Ökonomie muss Zeit gewonnen werden, da ist Zeit ein Kosten- und ein Wettbewerbsfaktor. In der Erziehungs- und der Bildungsarbeit, wie auch in der Kunst, muss Zeit hingegen in kreativer Art und Weise verloren werden. Der Fehler, der gemacht wird ist mithin der, den ökonomischen Zeitbegriff absolut zu setzen. Für mich heißt das: Wer zeitzufrieden leben will, muss unterschiedliche Zeiten leben.

STANDARD: Das lenkt den Blick auf die Führungskräfte und den Zeitdruck, der auf ihnen lastet.

Geißler: Und der nicht wegzudiskutieren ist. Und der vermutlich weiter zunehmen wird. Wir konkurrieren in der globalen Welt eben nicht nur mit Ideen, sondern auch mit der Zeit, in der sie in verkaufsfertige Produkte umgesetzt werden. Time to Market ist nun einmal eine relevante Größe. Folglich müssen Führungskräfte mit Zeitdruck leben und umgehen können. Um das aber auf Dauer beruflich erfolgreich und gesundheitlich ohne Schaden zu nehmen zu können, müssen sie erkennen, dass dieses "Umgehen mit Zeitdruck" eine mehrdimensionale Größe ist. Was schlicht und einfach heißt, sie müssen der Druckphase eine Entlastungsphase gegenüberstellen. Wer mit Zeit sinnvoll und produktiv umgehen will, muss die Zeit in ihrer Vielfältigkeit leben und nutzen, muss schnell sein können, langsam ebenso, muss warten können, Pausen machen, wiederholen, anfangen und Schluss machen können. Und - das ist das Wichtigste - der braucht Maßstäbe fürs "Genug" . Die müssen nicht immer gleich bleiben und können sich verändern, aber fehlen sie gänzlich, leben Führungskräfte "Maß-los."

STANDARD: Und das wird dann bedenklich?

Geißler: Führungskräfte, die in diesem Sinne "Maß-los" im Umgang mit Zeit leben, verrechnen mehr Zeit in Geld als ihrem Wohlergehen und ihrer sozialen Mitwelt gut tut. Und möglicherweise auch ihren Geschäften. Nicht nur Autofahrer können wegen überhöhtem Tempo aus der Kurve fliegen. Führungskräfte, die sich nicht die Zeit zum ausgleichenden Ausruhen nehmen und so nicht zur Besinnung kommen, riskieren das ebenso. Erfolg gründet nicht allein auf Können. Erfolg gründet in mindestens gleichem Maße auch auf Verhalten. Anderen gegenüber ebenso wie sich selber gegenüber. Wer sich als Führungskraft im Blick auf den Umgang mit Zeit "Maß-los" verhält, erhöht sein Krankheits- und sein geschäftliches Unfallrisiko. Und, auch das gebe ich zu bedenken, ist und wird häufiger unzufrieden, hat oftmals schlechte Laune, fühlt sich vielfach gehetzt und setzt sich der Gefahr aus, inmitten oft unendlich vieler Menschen zu vereinsamen. Ein wirklicher Freundeskreis, eine Familie lässt sich nicht im Sinne eines entspannenden, regenerierenden Gegenpols unter permanentem Zeitdruck aufrechterhalten, speziell wenn kleinere Kinder dazugehören. Das gleiche gilt für alles das, was längerfristig stabil bleiben soll.

STANDARD: Das heißt, der ständig gehetzt lebende Vorgesetzte destabilisiert nicht nur sich selbst, sondern auch seine Umgebung?

Geißler: Daran besteht kein Zweifel. So ist es. Und nicht nur das, sie oder er beeinträchtigt dadurch auch die Leistungskraft ihres beziehungsweise seines Bereichs. Denn den Zeitdruck, dem man selber ausgesetzt ist oder, was wir ja bitte auch nicht vergessen wollen, den man sich selber macht, an andere weiterzugeben, andere damit ihrerseits unter Druck zu setzen, das ist Normalität. Und, wenn Sie mir gestatten das hinzuzusetzen, eine sehr unkluge Normalität. Denn sie führt zu Vervielfachung und zur Verbreitung der Zeitprobleme, aber nicht wie erhofft zu ihrer Reduktion. Schnell, schnell, schnell ist kein Lösungsmodus, weder sachlich noch menschlich. Wie ein Bumerang kommt der Zeitdruck zurück. Man wird ihn so wenig los wie einen Bumerang, den man wegzuwerfen versucht. Ich denke, es kann gar nicht oft genug wiederholt werden, Zeitdruck verschlechtert die Stimmung und darunter leidet die Qualität der Zusammenarbeit. Zeitdruck bedeutet einen ständigen schleichenden Aderlass für die Leistungskraft.

STANDARD: Mit anderen Worten, wirklich zukunftsweisende, wirklich problemlösende Ergebnisse und Zeitdruck vertragen sich nicht?

Geißler: Wie der Volksmund so richtig sagt: Es lässt sich nichts erzwingen. Gut Ding will Weile haben. Gute Gedanken wollen und müssen reifen. Tempo machen, Zeitdruck, dass das der falsche Weg ist, wissen wir aus soliden Forschungen amerikanischer Spitzenuniversitäten. Zeitdruck führt zu konventionellen Lösungen und behindert kreative Entscheidungen. Der Grund: Unter Zeitdruck gesetzt, greift man auf bewährte, alte Handlungsmuster und Schemata zurück Neues und neue kreative und originelle und innovative Wege fallen einem in Drucksituationen eher selten ein. Außerdem, auch das wissen wir aus der Forschung, verringert Zeitdruck soziale und sozialverträgliche Lösungen. Zeitdruck macht egoistisch und gefährdet, wie gesagt, Beziehungen. Der ständig gehetzte Vorgesetzte verliert nicht nur den Draht zu seinen Leuten, er verliert auch das Gespür für sie. Fingerspitzengefühl und Zeitdruck passen nicht gut zusammen. Aber gerade das Quentchen Fingerspitzengefühl ist häufig das berühmte Zünglein an der Waage.

STANDARD: Professor Geißler, Muße ist ein beinahe vergessenes Wort. Es lohnte sich also, es wieder zu entdecken?

Geißler: Als Wort ist "Muße" nicht vergessen, wohl aber als Realität wie mir scheint. Wer weiß noch, wie sich das anfühlt, von den Musen geküsst zu werden? Wer weiß noch, dass Muße aller Liebe Anfang ist? Muße, das ist verfügbare Zeit über die nicht verfügt worden ist. Muße ist ein Zustand, in dem die Zeit auf einen zukommt. Und heute? Heute wird Zeit organisiert, gemanagt und gespart. Es ist ein Aberwitz, heute hetzt man von Besinnung zu Besinnung und wundert sich über die ausbleibende Ausgeglichenheit und Zufriedenheit. Muße überdauert in unserer Gesellschaft im besten Fall als welkes Blümchen der Sehnsucht. Aus meiner Arbeit, aus all den vielen Gesprächen weiß ich doch: Es ginge gerade den Führungskräften, letztlich aber uns allen ja schon besser und wir würden uns wohler fühlen, wenn wir im Arbeitsleben etwas mehr Zeit zum Nachdenken, zum Beginnen von Neuem und zum Beenden des Alten hätten, zum Abwägen. Wer schöpferisch und innovativ produktiv sein will, braucht solche Zeiten und solche Gelegenheiten. Manche Unternehmen haben das schon erkannt und fahren gut damit. In der Breite gilt es, das noch zu erkennen. Dadurch könnten wir, wie ich meine, in der Wirtschaft viel Leistungskraft gewinnen und den Kostenblock der Fehltage, den ein augenscheinlich zunehmendes psycho-mentales Erschöpfungsproblem anwachsen lässt, spürbar reduzieren.

STANDARD: Professor Geißler, lassen Sie uns zum Schluss zum Anfang zurückkehren. Zeit, die ihr innewohnende Kraft wird dann optimal freigesetzt, wenn ...?

Geißler: Wenn Zeit nicht nur einseitig gesehen wird. Erst wenn Zeit in ihrer Vielfalt akzeptiert wird, als Ressource, als Entspannungsmöglichkeit, als Raum zum Abwägen, Bedenken und Überlegen und noch viel mehr haben wir Zugriff auf ihre immense Wirkkraft. Wenn die Wirtschaft einsieht und sich damit zufrieden gibt, dass die Gleichung "Zeit ist Geld" nur für das ökonomische System gilt. Wenn sie auch ihre Abhängigkeit von anderen Zeitanforderungen, zum Beispiel denen der inneren und äußeren Natur akzeptiert. Wenn sie sich von der Illusion verabschiedet, souverän und ohne Rücksicht auf ihre Systemumwelt über Zeit entscheiden zu können. Wenn sie nicht Zeitgewinne anstreben würde, sondern produktive Zeitbalancen. (Hartmut Volk/DER STANDARD; Printausgabe, 10./11.12.2011)