Die Wirtschaftskrise und damit verbundene Zukunftsängste verursachen einen Anstieg psychischer Erkrankungen, warnen Experten: Vor allem Angehörige von Risikogruppen wie Armutsgefährdete, Arbeitslose, von Burn-out Betroffene und Jugendliche ohne Jobperspektive seien durch die neue, belastende Situation überfordert, sagt Christa Pölzlbauer, Vizepräsidentin des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie (ÖBVP). Der ÖBVP fordert mehr betriebliche Gesundheitsförderung und Prävention sowie einen leichteren Zugang zu psychotherapeutischen Behandlungen.

900.000 Menschen in Österreich werden laut Daten des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger, die erstmals im Sommer veröffentlicht wurden, wegen seelischer Probleme behandelt. 46 Prozent dieser Patienten sind im erwerbsfähigen Alter. Die Anzahl der Krankenstände aufgrund psychischer Diagnosen habe sich in den zwei Beobachtungsjahren seit 2009 um 22 Prozent erhöht.

840.000 Menschen werden mit Psychopharmaka behandelt, seit 2009 stieg die Zahl der Verschreibungen um 17 Prozent. Aber nur rund 65.000 Versicherte erhalten eine Psychotherapie - ein Versorgungsgrad von gerade einmal 0,8 Prozent. Pölzlbauer kritisierte das "Missverhältnis" zur Verschreibung von Psychopharmaka, deren steigender Einsatz zulasten der Therapie gehe.

Risikogruppe Frauen

Die Anzahl schwerer seelischer Erkrankungen mit stationären Aufenthalten sei kaum gewachsen, für den "außergewöhnlichen Anstieg" der Fälle insgesamt, so ÖBVP-Präsidentin Eva Mückstein, sei daher eine Zunahme leichterer Erkrankungen verantwortlich. Ins Bild passt, dass Arbeitslose viermal so häufig von psychisch bedingten Krankenständen betroffen sind und dass 70 Prozent der Jugendlichen ihre Zukunft negativ einschätzen. Ein besonderes Risiko tragen offenbar Frauen: Zwei Drittel der Patienten, die Antidepressiva und Tranquilizer einnehmen, seien weiblich, so Mückstein.

Was macht der Seele so viel Druck? Schuld seien die veränderten Lebens- und Arbeitswelten, sagte der Sozialwissenschafter Wolfgang Dür, Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Health Promotion Research (Gesundheitsförderungsforschung). Die Arbeitsleistung des Einzelnen sei in der globalisierten Wirtschaft stark gestiegen, samt Termin- und Qualitätsdruck. Die erforderliche Flexibilität führe dazu, dass Beschäftigte ihren Arbeitsplatz als sehr unsicher empfinden.

Zudem haben laut Dür immer mehr Menschen das Gefühl, sie müssten in ihren Job mehr investieren, als sie zurückbekommen. Da geht es um Wertschätzung und Karrierechancen, aber auch um die Bezahlung: "Die Hälfte der Bevölkerung hat Reallohneinbußen hinzunehmen gehabt in den vergangenen zehn Jahren." Und die hätten noch als "Boomjahre" gegolten. Das führe dazu, dass die Zahl unmotivierter Mitarbeiter steige: Laut Gallup-Studie liegt der Anteil jener Arbeitnehmer, die nur mehr "Dienst nach Vorschrift" machen, bei 57 Prozent, etwa 15 Prozent seien bereits in die sogenannte innere Kündigung abgetaucht, sagte Dür. (APA, red/DER STANDARD, Printausgabe, 24./25./26.12.2011)