Wolfgang Müller-Funk wirft den Befürwortern direkter Demokratie "Unverständnis der westlichen Demokratien" vor (Standard 29. 12. 2011). Wir verstehen zunächst: Die Schweiz ist keine westliche Demokratie. Eine solche sei gekennzeichnet durch eine "ausgewogene Machtbalance zwischen Regierung, Gesetzgebung und Judikative, der räumlichen und zeitlichen Beschränkung von Macht". Merkwürdig. Daran würde direkte Demokratie genau nichts ändern.

Sie würde vielmehr eine zusätzliche Dimension der Gewaltentrennung bringen. Nämlich dann, wenn sich Regierung, Parlament und Justiz nicht ausreichend gegenseitig kontrollieren, sondern bestärken und zu einem Machtblock verschmelzen, braucht es eine Korrekturmöglichkeit durch den Souverän. Dies umso dringender, je öfter das Parlament gegen den Souverän entscheidet: Bankenrettung mit Steuergeld, Legalisierung von Patenten auf Lebewesen, Liberalisierung des Kapitalverkehrs in Steueroasen, Postmarktöffnung, Abschaffung des Anfütterungsparagrafen .. .

Parlamentsentscheidungen gegen die Bevölkerung häufen sich, weil Parteien immer fester in der Hand mächtiger Wirtschaftslobbys sind. "Traditionelle" Gewaltentrennung funktioniert nicht mehr, es braucht die zusätzliche Teilung zwischen Auftraggeber (Souverän) und Auftragnehmer (Parlament/Regierung). Wenn sich die Macht des Souveräns darauf beschränkt, alle fünf Jahre eine Partei wählen zu dürfen, degeneriert die indirekte Demokratie zur "Diktatur auf Zeit".

Müller-Funks zweites Argument, gewählte Politiker und Parteien würden im Falle direkter Demokratie "aus der Verantwortung entlassen", ist ebenso rätselhaft: Das Parlament bliebe, Wahlen blieben, Parteien und Politiker blieben. Die Ergänzung indirekter durch direkte Demokratie würde daran nichts ändern.

Einzig sinnvolle Auflösung dieses Rätsels ist, dass Müller-Funk den wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Diskurs schlicht nicht kennt, in dem weit und breit niemand fordert, dass über alles direkt entschieden werden soll. Direkte Demokratie soll die indirekte kontrollieren, korrigieren und ergänzen, aber nicht ersetzen. 99 Prozent aller Gesetze würden auf demselben indirekt-parlamentarischen Weg beschlossen wie bisher.

Der Umstand, dass der Nationalrat vom Souverän korrigiert und ergänzt werden kann, würde dessen Verantwortungsbewusstsein mit Sicherheit stärken. Kann er nicht zur Rechenschaft gezogen werden, verlockt das wohl eher zu Machtmissbrauch und Verantwortungslosigkeit.

Drittens: Auch die - auffallend selektiv gewählten - Beispiele Müller-Funks tragen wenig zur Erhellung bei. Eine Volksbefragung (von oben herab) wie beim Wiener Konferenzzentrum ist der gegenteilige Mechanismus, der seitens der Zivilgesellschaft gefordert wird: Volksabstimmungen oder -entscheide sollten ein Instrument des Souveräns sein ("Referendum"), nicht von Regierungen ("Plebiszit") und schon gar nicht von Diktaturen.

Aus diesem Grund ist der Nationalsozialismus ein besonders unglückliches Beispiel. Erstens gingen die "Plebiszite" von einem diktatorischen Regime aus; zweitens wurde - zuvor - die Ausschaltung des Parlaments 1933 vom Reichstag beschlossen und nicht von der Bevölkerung! Analog argumentiert müsste Müller-Funk deshalb auch gegen indirekte Demokratie sein, weil diese ja gleich schweren Schaden anrichten kann, was die Geschichte zeigt.

Damit sind wir bei einer weit verbreiteten Angst vor direkter Demokratie, nämlich der, dass Grundrechte außer Kraft gesetzt oder die Demokratie selbst ausgeschaltet werden könnte. Zielt eine Initiative auf die Einschränkung der Grundrechte oder auf die Abschaffung der Demokratie, sollte sie unzulässig sein.(Christian Felber, DER STANDARD, Printausgabe, 5./6.1.2012)