S&P-Geschäftsführer Hinrichs: "Generell wird in Ratings mehr hinein interpretiert, als sie aussagen.

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Size does matter: Vom Frankfurter Main Tower aus trifft S&P seine Rating-Entscheidungen.

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Eingang zu Standard & Poor's in der Neuen Mainzer Straße: Wer S&P-Analyst ist, wissen nur sie selbst.

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Ohnmächtiger Protest: Zeltkolonie "Occupy Frankfurt" vor der europäischen Zentralbank.

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Achim, 49, schläft seit Oktober im Zelt. Banken, Ratingagenturen? "Da könnt' ich kotzen."

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"Occupy"-Camper Uwe meint: "Wenn ich bewerte, dann brauch' ich 'nen Zollstock. Die haben keinen Maßstab mehr!

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Frankfurter Bankenviertel vom Main Tower aus: Gute Aussicht für Ratinganalysten.

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Wurst-Verkäuferinnen an der Hauptwache: "Die Börse ist gleich da hinten." Standard & Poor's? Noch nie gehört.

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Ratinganalysten verteilen ihre Zensuren für Europa auch von Frankfurt aus - die meisten Bürger ahnen nichts davon.

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Demonstranten vor der Deutschen Bank: Protest gegen die Leuchttürme des Corporate Germany.

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Freitag, 13. Jänner, 16:43 Uhr. Österreich kurz vor Verlust des Triple-A, berichtet "Financial Times Online". Ein erstes Gerücht. 22:49 Uhr: Die höchste Kreditwürdigkeit der Republik ist offiziell weg. Standard & Poor's, die amerikanische Ratingagentur, nimmt Österreich ein A.

Seit Freitag steht die Politik nun im Banne der schlechten Nachricht. Im November bereits, da waren gerade die Ratinganalysten von Moody's in Wien, gingen Kanzler Werner Faymann und Vize Michael Spindelegger gemeinsam ins Fernsehen. Als Zeichen der Entschlossenheit. Doch alle Symbolpolitik, alles Bitten um eine Amnestie der Finanzmärkte, kam zu spät. Jetzt machen die Spitzen der Republik ein Gesicht, fast so als hätte man Österreich die Neutralität genommen. AAA, ein österreichisches Gütesiegel, ist verloren.

Der Kanzler war verärgert, die Finanzministerin bedauerte, der Nationalbank-Gouverneur witterte einen politischen Anschlag von Standard & Poor's. Jedenfalls wirkten sie alle hilflos.

Denn die Urteile über die Bonität von Staaten werden woanders gefällt. In Gebäuden wie dem Main Tower in Frankfurt, einem 200 Meter hohen Glas-Prestigebau im Frankfurter Finanzviertel. Internationale Banken sind hier eingemietet, und in den Stockwerken 26, 27 und 30 betreibt die weltgrößte Ratingagentur Standard & Poor's ihre Deutschland-Filiale. Ziemlich weit oben für ein Unternehmen, das seine Bedeutung gerne kleinredet.

S&P: Meinungsstark, aber bescheiden

Im 27. Stockwerk des Main Tower sitzt offenbar einer der mächtigsten Männer in Europa, Torsten Hinrichs, Deutschland-Chef von S&P. Wer, wenn nicht er, kann erklären, was S&P tut und aus welchen Motiven? Doch Hinrichs scheint nicht allzu viel am unterstellten Einfluss zu liegen. Freundlich-distanziert blickt er einen durch die silbern gerahmte Brille an und wirbt um Verständnis für die Methoden und Kriterien der Ratings von S&P. Herr Hinrichs, hat S&P Macht? "Was wir haben", sagt er, "ist die Anerkennung der Märkte hinsichtlich unserer analytischen Objektivität und des Track-Records, den wir über die Jahre aufgebaut haben. Aus dieser Situation erwächst eine Wertschätzung unserer Aussagen." Dass S&P in wenigen Tagen halb Europa in einem Schlag herunter stufen wird, lässt er sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht anmerken.

Unten beim Eingang des Main Tower schleichen zwei Sicherheitsbeamte in billigen Anzügen umher. Am Empfang versperrt ein Metall-Drehkreuz den Weg zum Aufzug, nur wer eine Chipkarte hat, darf passieren. Es geht dann hinauf in den 24. Stock, wo man in den nächsten Aufzug umsteigen muss, um in die Stockwerke 26, 27 und 30 zu gelangen, in die Korridore von S&P.

Buhmann der Politik

Nur drei Ratingagenturen werden global ernst genommen: S&P, Moody's und Fitch. Ihre Prognosen lassen die Finanzmärkte zucken und polarisieren die Öffentlichkeit. Spätestens jetzt auch in Österreich.

Viele sagen, dass Ratingagenturen wie S&P die Regierungschefs des verschuldeten Europa zu raschen Entscheidungen zwingen. Sie diktieren, so scheint es zumindest, Europas Kurs. Aber vielleicht ist es auch nur das Bild, das Politiker zeichnen wollen. Weil Ratingagenturen einen bequemen Buhmann abgeben. "Ich glaube schon, dass öfter einmal Ursache und Wirkung der Problematik verwechselt werden", sagt S&P-Geschäftsführer Hinrichs zu derStandard.at. "Gelegentlich müssen Ratingagenturen herhalten als Erklärung für unliebsame Events." Aus Sicht von S&P haben Länder wie Österreich zuerst Schulden aufgetürmt, dann erst haben die Ratings sich verschlechtert.

Auf den Gängen von S&P, im 27. Stock, sieht es gar nicht aus nach Macht. Auf Hoheitssymbole legt man keinen Wert. Die Flure sind ausgelegt mit dunkelblauem Spannteppich, hinter verglasten Trennwänden ahnt man Büros mit Schreibtischen und PCs, die nicht einmal besonders großzügig scheinen. Beim Empfang teilen sich zwei Sekretärinnen ein Büro, alles wirkt schnörkellos und effizient.

Hinrichs: Transparente Methoden, klare Kriterien

Aber wie kommen die Ratings von S&P zustande, von denen so viel abhängt? Torsten Hinrichs spricht mit ruhiger Stimme, überlegt und sachlich. Detailliert erklärt der 53-Jährige die komplexen Rechenmodelle, denen S&P-Analysten folgen, und erzählt, nach welchen strengen Kriterien die zahlreichen "Notches", also Abstufungen, zwischen AAA und D wie Default (Zahlungsausfall) verteilt werden. Er fährt mit dem Kugelschreiber über eine Tabelle. "Je nachdem, was in dieser Matrix herauskommt, ergeben sich Rating-Vorschläge fürs Komitee, von denen das Komitee nicht wirklich doll abweichen kann." Er weist Vorwürfe von Ökonomen zurück, das Erstellen von Ratings sei so transparent wie das Rezept von Coca Cola.

Am Anfang bekommen Analysten einen Kunden zugeteilt, das kann ein Auto-Produzent sein, eine Versicherung oder ein Staat. Mindestens zwei Analysten bereiten das Rating vor. Beschlossen wird das Rating dann aber in einem Komitee, das aus zumindest fünf, meist aber mehr Analysten besteht.

Sie treffen zusammen in einem Konferenzraum wie hier in Frankfurt, Main Tower. In der Mitte ein heller Tisch, an dem sechs Personen bequem Platz fänden, darauf ein Telefon mit Mikrofon und Lautsprecher. Am Fenster zeichnen sich zwei 16:9-Bildschirme vor Frankfurts Dächern ab. Meist bleiben ein paar Stühle leer, kann man vermuten, etwa wenn Analysten aus Amerika und Asien über Video am Komitee teilnehmen.

Rating-Büros auf der ganzen Welt

Wenn Geschäftsführer Hinrichs Journalisten die S&P-Modelle erklärt, nimmt er auch in einem der Konferenzräume Platz. An einer Wand ein abstraktes Gemälde in Gelbtönen, an einer anderen die Zeittafel mit der Unternehmensgeschichte von Standard & Poor's. Die begann 1860 mit der Bewertung von amerikanischen Eisenbahn-Firmen, heute beschäftigt S&P, Tochter des US-Konzerns McGraw-Hill, 1440 Ratinganalysten weltweit. In 39 Büros von New York bis Singapur bewerten sie weit mehr als Eisenbahn-Firmen.

Am Ende geht es beim Rating nur um eines: die Bonität, also Kreditwürdigkeit. "Generell wird in Ratings mehr hinein interpretiert, als sie aussagen. Was wir im Rating abgeben, ist eine Meinung über die zukünftige Fähigkeit eines Schuldners, Zahlungsverpflichtungen und Zinszahlungen pünktlich und vollständig zu bedienen, nicht mehr", sagt Hinrichs mehrmals. Also keine Anlage-Empfehlung.

"Anglo-amerikanischer Finanz-Imperialismus"

In Österreich, jetzt vom Bonitäts-Thron gestoßen, werden die Beteuerungen von S&P, unabhängig und objektiv zu agieren, aber nicht mehr geglaubt. "Die Ratingagenturen sind Teil des anglo-amerikanischen Imperialismus", zürnte Ludwig Scharinger, Chef der Raiffeisen-Landesbank Oberösterreich, bereits im Dezember. Selbst Nationalbank-Gouverneur Ewald Nowotny nennt S&P "sehr viel aggressiver" als die anderen Agenturen.

Auch wenn S&P nichts weiter sein will als ein Thermometer für die fiebrigen Finanzmärkte, bleiben Fragen: Wie neutral gehen die Ratingagenturen S&P, Moody's und Fitch vor, allesamt mit US-Hauptsitz? Wie viel Autorität will die Politik drei privaten Unternehmen überlassen? Bezahlt werden die Ratings schließlich nicht von Anlegern, sondern von den benoteten Unternehmen selbst.

In Frankfurt sollen Chipkarten die Unabhängigkeit der Ratings schützen: Wer mit Kunden spricht und Verträge für ein Rating abschließt, dürfe den 27. Stock, wo die Analysten sitzen, nicht einmal betreten.

Verschwiegenes Geschäft

Dass der Bürger keine Analysten zu Gesicht bekommt, verstärkt das ohnehin mysteriöse Image der Ratingagenturen: Sie gelten als verschwiegen, an der Grenze zur Geheimniskrämerei. Ein Analyst hat in der Regel Betriebs- oder Volkswirtschaft oder Mathematik studiert. Doch die Menschen, die den heiklen Job des Analysten machen, bleiben anonym, von sehr wenigen Auftritten abgesehen: finanztechnische Stellungnahmen, in denen sie ihre Ratings verteidigen. Das ist die Medienstrategie von S&P: Analysten, die öffentlich über ihre Rolle in der Gesamtwirtschaft reden, will man verhindern.

Auch für das Gespräch mit Geschäftsführer Hinrichs wurden Fragen zu Länderratings vorab untersagt. Detailfragen zum Arbeitsalltag von Analysten weist die Pressesprecherin recht schroff zurück. Konkurrent Moody's ließ aus London gar ausrichten, Gespräche mit Analysten seien generell unmöglich.

Deutsche S&P-Mitarbeiter, erfährt man immerhin, sind in Frankfurt in der Minderzahl, die Kaffeeküche zum Beispiel ist beschildert mit "Kitchen". 120 Menschen beschäftigt S&P in Frankfurt, rund die Hälfte Analysten. Vor den Drehtüren des Main Tower steht nachmittags ein kleines Grüppchen, Männer und Frauen in schwarzen Mänteln, mit eleganten Schals. Aber wer hier S&P-Analyst und wer Manager einer der eingemieteten Banken ist, wissen nur sie selbst. Das einzige, was man mit Sicherheit erfährt: Ein Analyst muss 27 Stockwerke runterfahren, wenn er rauchen will. Das ist im gesamten Main Tower verboten.

Politiker stellen ihre Macht, auf Parteitagen und Volksfesten, gerne zur Schau. Dass Amerikas Ratingagenturen in ihrer Stadt drei große Filialen betreiben, wissen Frankfurts Bürger hingegen nicht. In den zahlreichen Starbucks-Cafés, in den Pubs und in den Hotelrezeptionen kann einem niemand den Weg zu S&P, Moody's oder Fitch beschreiben. Beim Wurst-Treff an der Hauptwache, in der Frankfurter Innenstadt, sagt eine Verkäuferin: "Die Börse ist da hinten, wo das Schild 'Wochenmarkt' steht." Standard & Poor's? Noch nie gehört.

"Occupy Frankfurt" - die gescheiterte Besetzung

Achim kennt sie hingegen alle, "die Ratingagenturen". Und im Main Tower, im 27. Stock, wohnt sein Feind. Nur drei Straßen weiter hat der 49-Jährige sein Zelt für Occupy Frankfurt aufgeschlagen. "Ratingagenturen und Banken, eine Mischpoke", flucht Achim und verkriecht sich unter seiner tropfnassen Zeltplane. "Da könnt‘ ich kotzen." Für ihn ist der Kapitalismus gescheitert. Aber es ist nur ein Grüppchen von fünfzig Leuten, die im Jänner vorm Gebäude der Europäischen Zentralbank noch ausharren. Keine Besetzung Frankfurts, eher ein verglimmendes Flämmchen. Demonstrant Uwe wuzelt sich eine Zigarette und meint dennoch: "Ich glaub' denen dat mit der reinen Mathematik nich'. Wenn ich bewerte, dann brauch' ich 'nen Zollstock. Die haben keinen Maßstab mehr!" Aber gejammert wird hier auch über die Lobbyisten in Berlin oder über das deutsche Bildungssystem.

Hinrichs sagt, er habe in den vergangenen Monaten auch mit Demonstranten gesprochen: "Ich kann dieses Unbehagen aus der Ohnmacht, etwas verändern zu können, gut verstehen. Ich kann gut nachvollziehen, dass die Zusammenhänge, die zu der Euro-Schuldenkrise geführt haben, so komplex sind, dass es der Normalbürger nicht mehr wirklich versteht."

Der Einfluss ist gestiegen, das Image hat gelitten

Aber alles Verständnis für die Ohnmächtigen ändert nichts an der Frage: Wie kamen Ratingagenturen in ihre mächtige Position? Einige Ökonomen machen vor allem die Regulierungsvorschriften der Banken dafür verantwortlich. Diese nahmen immer häufiger Bezug auf Ratings, zudem stieg die Komplexität von Wertpapieren. S&P-Chef Hinrichs sieht Regulierungsvorschriften wie Basel II hingegen nicht hauptverantwortlich: "Der erste Grund ist einfach die Zunahme der Aktivitäten an den Kapitalmärkten weltweit. Der zweite Punkt ist die Globalisierung dieser Kapitalmärkte. Ein deutscher Anleger kauft nicht mehr ausschließlich in Deutschland begebene Anleihen, sondern er schaut sowohl nach Asien als auch nach USA und zunehmend in den Mittleren Osten. Das gilt auch umgekehrt. Der dritte Punkt ist der Track-Record von Standard & Poor's. Unsere Ratings sind ganz überwiegend konsistent, konstant und haben eine extrem gute Treffgenauigkeit."

Die Analyse mancher Hypothekenverbriefungen brachte S&P allerdings viel schlechte Presse ein. Manche sagen, deren positive Bewertung habe die Finanzkrise 2007 verschärft und mit verursacht.

Dennoch ist die Orientierungslosigkeit der Investoren die Geschäftsgrundlage von S&P geblieben. Der Wiener Ökonom Josef Zechner sagt: "Wir brauchen Ratingagenturen, wir werden ohne sie nicht auskommen." Die bloße Veröffentlichung mache sie aber schon mächtig, gibt Zechner zu. Das muss auch Österreich spüren. Denn die Republik könnte bald höhere Zinsen für ihre Staatsanleihen bezahlen. So äußert S&P eine Meinung - aber eine mit Wirkung.

Politik in schwacher Position

Am Ende des Gesprächs stellt Hinrichs sich kurz ans Fenster und zeigt auf den Römerberg und die Paulskirche, wo 1848 die Frankfurter Nationalversammlung, Deutschlands erste frei gewählte Volksvertretung, zusammentrat. Aber er macht das nicht mit hochfahrender Geste, sondern eher wie ein Manager, der sein Büro halt zufällig im 27. Stock hat.

Von hier oben lässt sich die Macht der Märkte in geraffter Form begutachten. Auf den Wolkenkratzern gleißen Konzern-Logos, die Lichter des Corporate Germany. Deutsche Bank, Commerzbank und andere haben am Main ihre Weltzentralen. Frankfurt ist eine mittelgroße deutsche Stadt, kaum 700.000 Einwohner, aber sie erinnert an amerikanische Cities. Einmal über die Straße und man ist in einem heruntergekommenen Bahnhofsviertel mit Döner, Pizza, Puffs und muffigen Zwei-Sterne-Hotels.

Die Imbissbuden und die Zelte der Occupy-Bewegung sind, vom Main Tower aus gesehen, ziemlich klein und unbedeutend. Doch obwohl die Ratings von S&P in den Finanzpalästen ringsum gehört und geachtet werden, weist Hinrichs jeden Verdacht, mächtig zu sein, von sich. Hinrichs sagte schon mehrfach, S&P habe nie darum gebeten, eine Referenzgröße zu sein. Wie aber will die Politik die Deutungshoheit von S&P beschränken, wo sich doch Europas Bankinstitute auf die externen Meinungen der Agenturen verlassen und die Investoren den Ratings fast rückhaltlos trauen? "Die Frage", sagt Hinrichs, "stellen Sie am besten den Politikern, die diese Forderung stellen." (Lukas Kapeller, derStandard.at, 17.1.2012)