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Gedenkraum im Psychiatrischen Krankenhaus Baumgartner Höhe mit Gehirnpräparaten von Euthanasie-Opfern der Nationalsozialisten.

 

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Melitta Breznik, geb. 1961 in der Steiermark, ist Ärztin und Schriftstellerin. Sie lebt und arbeitet als Fachärztin für Psychiatrie in der Schweiz. Von ihr erschienen Romane und Erzählungen, zuletzt "Nordlicht" (Verlag Luchterhand, 2009).

 

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Die Erkenntnis, Enkelin einer Euthanasiepatientin zu sein, trifft mich mit einem Schlag an der Gedenkveranstaltung für die Opfer der Euthanasie im Dritten Reich beim Kongress der Deutschen Fachgesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) Ende 2010. Der Präsident der DGPPN entschuldigt sich im Namen der Nachfolgegesellschaft bei den Betroffenen, Angehörigen und Nachkommen, für das Leid, das den Opfern von Zwangssterilisationen und Euthanasie zugefügt worden war.

Vor Jahren habe ich in der eigenen Familie recherchiert und ein Buch mit dem Titel Das Umstellformat, ein Bericht über den Tod meiner Großmutter in der Psychiatrie im Dritten Reich verfasst. Während der Entschuldigungsrede wird etwas in mir angesprochen, das ich in der Form nicht wahrgenommen habe und das mich wütend und traurig macht. Ja es war so, meine Großmutter war schizophren und Opfer der "wilden Euthanasie". Ja, die Psychiater haben sie auf dem Gewissen. Und jetzt diese Entschuldigung. Ich bin Psychiaterin und Psychotherapeutin, und ich klage meinen Berufsstand an. Ich sitze in der zweiten Reihe des gut besetzten Hörsaals im Internationalen Kongresszentrum in Berlin und bin mit einem Mal die Enkelin meiner ermordeten Großmutter. Über sie war in der Familie immer geschwiegen worden. Es existierte nicht einmal ein Foto von ihr. Das bekam ich zum ersten Mal zu Gesicht, als ich gemeinsam mit meiner Mutter ihre Krankengeschichte im Dokumentationszentrum für Euthanasie im Dritten Reich in Hadamar aufschlug. Ich schäme mich beim Hören der Entschuldigung für meine Tränen, denn ich kann meine Traurigkeit und Wut nicht zuordnen. Ich fühle mich betroffen als Enkelin eines Opfers und als Nachfolgerin der Täter. Ich versuche die Gefühle zu benennen, die von mir Besitz ergreifen: Wut, Trauer, Scham.

Die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen im Zusammenhang mit den Zerstörungen, die der Krieg in familiären und gesellschaftlichen Lebensbereichen hinterlassen hat, beschäftigt mich als Psychiaterin und als Privatperson schon lange. Ich unternehme den Versuch, die eigenen Gefühle mit Bildern und Leitsätzen aus meiner eigenen Vergangenheit mit jenen der Familiengeschichte in Verbindung zu bringen, um so der Trauer, der Wut und der Scham, die von der letzten und vorletzten Generation weitergegeben wurden, einen Namen, ein konkretes Antlitz zu geben.

Anlässlich dieser Entschuldigung bei den Opfern der Psychiatrie wird mir bewusst, in welchem Ausmaß Schuld und Scham nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die deutsche und österreichische Nachkriegsgesellschaft geprägt haben. Die Trauer wurde verdrängt, die Wut war nicht zulässig. Trost und Ablenkung fanden die Menschen in Form einer materiellen Überdeterminierung, welche die Beziehungsgestaltung in den Familien bestimmte. Wozu die Beschäftigung mit den Themen des letzten Krieges in unseren Breiten nach bereits geleisteter Aufarbeitung in Anbetracht des aktuellen Leids in einer Welt, in der Katastrophen und Kriegsgräuel den Alltag bestimmen? 60 Prozent der heute auf diesem Erdball lebenden Kinder haben einmal in ihrem Leben bereits Kontakt mit bewaffneten Auseinandersetzungen gehabt. Die Forschung auf dem Hintergrund des Friedens seit 1945 über das Thema der Weitergabe von Kriegstraumata auf die nächste und übernächste Generation hat in den letzten Jahren im psychotherapeutischen Fachdiskurs wichtige Publikationen hervorgebracht. Vielleicht können deren Ergebnisse zur Friedensentwicklung und -erhaltung in anderen Weltgegenden langfristig beitragen?

Liegt im Mechanismus der Weitergabe von Traumata in Form von nicht immer klar zu definierenden Gefühlen die Unzerstörbarkeit des "Bösen", das sich fortpflanzt, wenn die Nachkommen der Opfer aber auch jene der Täter diese Energie nicht umzuwandeln verstehen? In meiner beruflichen Tätigkeit in einer psychosomatischen Klinik in Deutschland bin ich vermehrt auf diese komplexen Zusammenhänge in den Biografien der Nachkommen gestoßen. Ich war verblüfft über die Langzeitwirkungen in Form unbewusster Antriebe, welche die Lebensläufe der nächsten Generationen prägen können, wenn verschwiegene oder offen tradierte Täter- oder Opfergeschichten als Altlasten die "Melodien" in den Familien bestimmen.

Bezogen auf die Situation meiner in der Euthanasie ermordeten Großmutter taucht das Gefühl von Schuld ihrer Kinder und Angehörigen, also meiner Elterngeneration, in Form einer ständig wiederholten Formulierung auf. "Warum haben wir sie nicht vor dem Tod retten können?" Das Gefühl der Schuld ist von Dauer, und selbst bei allem vernünftigen Darüberreden und selbst mit der späten Erkenntnis, durch nachträgliche Einsicht in die damalige Krankenakte, alles damals Mögliche unternommen zu haben.

Schweigen der Nachkriegszeit

Wenn man das Gefühl der Scham betrachtet, liegt hier vielleicht eine weitergegebene Scham in Bezug auf die Tatsache vor, eine psychisch kranke Familienangehörige zu haben? Noch dazu eine Person, die an Schizophrenie litt, was sie im Dritten Reich als "lebensunwertes Leben" abqualifizierte. Betrachtet man die Scham auf mich als Enkelin bezogen, kommt hier zum Tragen, dass eine Anlage zur Geisteskrankheit in mir steckt. Muss ich mich meiner Großmutter schämen? Mir wurde klar, dass diese Gefühle von meinen Eltern übernommen worden waren. Sie sind in einer indoktrinierten Gesellschaft aufgewachsen, deren Haltung geprägt war von Ausgrenzungs- und Vernichtungsbestrebungen auch von psychisch Kranken.

Wenn ich nicht "zufällig" die Ausbildung zur Psychiaterin gewählt hätte, wäre Großmutters Schicksal unter dem Familienschweigen begraben worden? Was Großmutter nach ihrem Tod widerfuhr, ist beispielhaft für das Schweigen der Nachkriegszeit. Hier verbindet sich auf besondere Weise das Thema Schuld und Scham in den Familien. Warum hat sich so lange keine Lobby für die Forderung um Wiedergutmachung für diese Opfer gebildet? Hat sich das Gefühl, kein Recht darauf zu haben, weil es sich um "minderwertiges Leben" handelte, auch in die nächste Generation weitervererbt? Wen anklagen? Was passiert mit der Energie der Trauer und Wut, die sich in der zweiten Generation als umgekehrte Fortführung an die Schuld und Scham von damals anschließt?

Wohin führt uns der Umgang mit knapper werdenden Ressourcen in der heutigen Zeit? Überblicken Politiker und Ethiker die Folgen moderner medizinischer Forschung? Haben wir aus der Geschichte gelernt? Die Grenzüberschreitungen in der Medizin sind nicht spezifisch für die Zeit des Nationalsozialismus, sondern lediglich eine extreme Manifestation von Potenzialen, die in der modernen Medizin und ihrer Forschung generell angelegt sind.

Die Abtreibungen von Kindern mit Trisomie 21, als Folge genetischer Diagnostik, wird uns im nächsten Jahrhundert nur mehr aus den Büchern Kenntnis über mongoloide Kinder vermitteln. Können wir uns diese "pflege- und kostenintensiven" Menschen nicht mehr leisten? Ist das herzliche Lachen eines Menschen mit geistiger Behinderung in Zukunft unerwünscht?

Gedanken zur sogenannten "Erbgesundheitspflege" hatten die Psychiater und Juristen bereits vor 1933 beschäftigt. Das Klima für derartige Schriften war in den ökonomisch schwierigen Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg bereit für solche Ideen. Sind diese geschichtlichen Zusammenhänge und die Gefahr der Verknappung der Mittel Ärzten von heute bewusst? Wir befinden uns in der westlichen Welt in einem Zeitalter der abnehmenden Prosperität. Eine "Zwei-Klassen-Medizin" hat sich in den letzten Jahren bereits entwickelt.

Zur Erhöhung der ökonomischen Ressourcen hat sich seit einiger Zeit die Ausbeutung des Menschen auf einem von ihm selbst gutgeheißenen Plan vollzogen, in dem das Individuum freiwillig Arbeitsleistungen erbringt, die ein gesundes Leben verunmöglichen, ihm aber die Teilhabe am Luxus sichern. Die Einteilung der Arbeits- und Freizeit in Kleinzeiteinheiten, die Verwischung der Grenze zwischen Freizeit und Arbeit und die Kontrolle durch die digitalen Kommunikationsmittel werden durch scheinbar hohe Einkommen belohnt, die viele dafür gebrauchen, sich noch mehr elektronische Kontrollgeräte anzuschaffen. Warum lassen viele das mit sich machen und sind noch stolz darauf? Selbst in den Spitälern und Praxen herrscht die digitale Kontrolle, die es immer mehr verunmöglicht, sich dem zuzuwenden, der uns eigentlich braucht, dem Patienten. Angeblich ist der Arzt selbst das beste Medikament, das jedoch immer seltener eingesetzt wird. Warum gehen die Ärzte und Patienten nicht schon längst auf die Straße?

Die schleichende Akzeptanz von Strömungen, die, provokativ ausgedrückt, "dem Zeitgeist" verhaftet sind, ist etwas, das die Humanmedizin immer vor Herausforderungen gestellt hat. Vor allem die Psychiatrie bewegte sich mit der Behandlung ihres per se "auffälligen" Krankengutes als unbeobachtete Ordnungshüterin jener Gesellschaft, in der sie gerade angesiedelt war. Im Dritten Reich wurden Ärzte verpflichtet "Erbkranke" gegenüber den Behörden anzuzeigen. Wäre den Behörden nicht ein Fehler unterlaufen, würde ich nicht als Enkelin einer "Erbkranken" im Hörsaal sitzen und diese Entschuldigung entgegennehmen.

Und doch. Worte der Entschuldigung können versöhnen, sie können etwas öffentlich machen und Genugtuung verschaffen, und sie haben mir die Auseinandersetzung mit meinen eigenen Gefühlen ermöglicht. Und sie haben mich über die Gefahren nachdenken lassen, mit denen sich der Berufsstand der Ärzte zu allen Zeiten auseinandersetzen muss. Ich frage mich, ob in der Gesundheitspolitik nicht bereits etwas unbeobachtet von allen Beteiligten außer Kontrolle geraten ist.

Ende 2011 wurde eine Internetplattform zum Gedenken an die Opfer der Euthanasie eingerichtet: www.gedenkort-t4.eu.

Ja es war so, meine Großmutter war schizophren und Opfer der "wilden Euthanasie". Ja, die Psychiater haben sie auf dem Gewissen. Und jetzt diese Entschuldigung.  (Melitta Breznik  / DER STANDARD, Printausgabe, 14./15.1.2012)