Soll 2015 bezugsbereit sein: das neue Rathaus von Rotterdam.

Illustration: Architekturbüro OMA

Wien - In der Baubranche gibt es ein enormes Potenzial für CO2-Reduktionen. 30 Prozent der globalen Kohlendioxydausstoßes und 40 Prozent des globalen Ressourcenverbrauchs fallen im Bausektor an. Doch viele Beiträge zur nachhaltigen Architektur entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als oberflächliche Kosmetik. Experten vermissen eine detaillierte, fundierte Auseinandersetzung.

"Wenn wir vom Haus der Zukunft sprechen, dann ist meist nur von grünen Fassaden, Passivhäusern und Milch bestellenden Kühlschränken die Rede", sagt der Stuttgarter Architekt und Ingenieur Werner Sobek, der einmal selbst von intelligenten Haushaltsgeräten träumte und diese in aller Welt propagierte. "Ich denke, dass diese leicht verständlichen Klischees eine Zeitlang durchaus dienlich waren, um das nachhaltige Bauen in den Köpfen der Menschen zu verankern. Nun müssen wir beginnen, die unterschiedlichen Komponenten und Systeme miteinander zu vernetzen."

Ganzheitliche Konzepte

Für das neue Rotterdamer Rathaus Stadskantoor entwickelt Sobek gemeinsam mit dem Pritzker-Preisträger Rem Koolhaas vom niederländischen Architekturbüro OMA derzeit ein ganzheitliches Haustechnikkonzept. Ziel ist es, durch Tageslichtnutzung, thermische Nutzung und permanente mikroklimatische Analyse den Energieverbrauch im ganzen Gebäude dramatisch zu senken.

Das 50.000 m² große Haus, das neben einem Rathaus auch Büroflächen und Wohnungen beherbergen wird, soll in eine semitransparente Fassade eingepackt werden. Die lichtdurchlässigen Wärmedämmpaneele sollen zur besseren Belichtung der Innenräume und so zu einer Einsparung von Stromkosten beitragen.

"Häsuer wie Kaffeekannenwärmer"

Herzstück der waghalsigen Konstruktion sind zwei große Atrien, die als klimatische Lungen dienen. Im Winter werden sie Kälte speichern, im Sommer Wärme. Über Wärmetauscher soll die Energie je nach Bedarf ins Wasser- oder Lüftungsnetz eingespeist werden. Heuer im Sommer ist Baubeginn. Geht alles nach Plan, wird der 65 Millionen Euro teure Stadskantoor bei Fertigstellung 2015 das grünste und nachhaltigste Gebäude der Niederlande werden.

"Ich bin kein großer Verfechter des Passivhauses, bei dem es immer nur darum geht, so dick wie möglich zu dämmen" , sagt der Stuttgarter Architekt Sobek. "Durch das Einpacken bis zur Unkenntlichkeit wird Architektur nicht nur vereinheitlicht, sondern letztendlich auch ästhetisch zerstört. Am Ende schauen dann alle Häuser aus wie Kaffeekannenwärmer. Das kann es nicht sein." Viel wichtiger als diese passive Herangehensweise sei die sogenannte Aktivbauweise, also die Kombination aus ressourcenschonender Konstruktion und ressourcengewinnender Technologie.

Ein ähnlich progressives, wenn auch baulich weniger spektakuläres Projekt wurde im Frühjahr 2010 in der schwedischen Hauptstadt eröffnet. Das Kingsbro-Huset, ein 13-stöckiges Office-Gebäude direkt neben dem Stockholmer Hauptbahnhof, wird mit menschlicher Abwärme geheizt. Was sich zunächst anhört wie eine makabre Höllenszene von Hieronymus Bosch, ist in Wirklichkeit eines der modernsten und fortschrittlichsten Green Buildings Europas.

Energiequelle Körperwärme

Zwischen 200.000 bis 250.000 Pendler queren tagein, tagaus die riesige Bahnhofshalle. Die aufsteigende Körperwärme der Passagiere ist wertvolle Energie. Über riesige Ventilatoren wird die warme Luft zu unterirdischen Wassertanks geleitet, wo sie über Wärmetauscher das darin befindliche Wasser aufheizt. Der jährliche Heizwärme- und Warmwasserbedarf kann auf diese Weise um 20 Prozent gesenkt werden.

"Je nach körperlicher Aktivität erzeugt jeder Mensch zwischen 50 und 100 Watt Energie", erklärt Projektleiter Karl Sundholm von Strategisk Arkitektur. "Diese wertvolle Ressource auf einem hochfrequentierten Bahnhof zu nutzen ist eine einfache haustechnische Angelegenheit, wurde bisher jedoch kaum umgesetzt."

"Die Möglichkeiten des grünen Bauens sind noch lange nicht erschöpft" , meint die Wiener Architektin Ursula Schneider von pos architekten. "Nachholbedarf gibt es einerseits in der Material- und Produktforschung, wo bis jetzt noch viel zu wenig gemacht wird. Andererseits aber auch in der Umsetzung beziehungsweise in der kreativen und intelligenten Kombination bereits bestehender Technologien."

"Im Grunde genommen sind wir heute schon so weit, dass wir auch im dicht verbauten Stadtgebiet Häuser bauen könnten, die mehr Energie erzeugen, als sie verbrauchen. Netzparität, die finanzielle Gleichstellung von Netzstrom und alternativ erzeugter Energie, wird in einigen Jahren gang und gäbe sein", sagt Schneider. Autarke Energieversorgung sei demnach längst umsetzbar.

Kritik an Politik

"Es scheitert nicht am Können, sondern am Wollen. Die Gebäudehüllen, die heute gebaut werden, sind fürchterlich altmodisch. Ganzglasfassaden mit Sonnenschutzglas, fehlende Physikkenntnisse und völliges Ignorieren der klimatischen Bedingungen - Bauen am Puls der Zeit schaut anders aus." Im Vergleich zu dem, wie Bauwerke konzipiert sein könnten, meint Schneider, kämen selbst die innovativsten Häuser heute daher wie eine Pferdekutsche mit primitivem Motor und Kurbel am Kühlergrill.

Die größte Kritik gilt der Politik. Sie müsste derartige Entwicklungen finanziell und steuerlich begünstigen, anstatt sie unnötig zu erschweren. Schneider: "Bisher hat es die Politik leider verabsäumt, die Menschen darin zu unterstützen, volles Vertrauen in erneuerbare Energien und Ressourcen zu fassen. Denn Tatsache ist: Die Zukunft liegt in hundert Prozent erneuerbarer Energieversorgung."

Gemeinsam mit ihrem Partner Fritz Oettl stellte Schneider im November vergangenen Jahres ein gebautes Exempel fertig, das diese Thesen unterstützt. Die Österreichische Botschaft in Jakarta, ein 700 m² großes Bürohaus, ist das ökologische Vorzeigeprojekt Indonesiens. Die Botschaft zeichnet sich nicht durch teure und komplizierte Technologien aus, sondern durch die Addition einfacher, aber cleverer Bestandteile.

Simpel, aber raffiniert

"Das Haus ist simpel, aber raffiniert konzipiert und nimmt in erster Linie Bezug auf die Sonne, auf das Klima und auf die üblichen Bau- und Fertigungsmethoden in Indonesien" , erklärt Schneider. Die Fenster werden durch Vordächer und die Wände durch Pergolen beschattet. Ein Großteil der Kühlenergie normaler Gebäude fällt dadurch gar nicht erst an. Der Rest wird solarelektrisch bereitgestellt und mittels Betonkernaktivierung in die Räume gebracht. Die Außenhülle ist dicht und hält die Luft in den Innenräumen kühl und trocken, die Fotovoltaikmodule dienen bei einem Stromausfall als Back-up.

"Das sind alles Bauweisen und Technologien, die längst State of the Art sind" , meint Schneider. "Da geht es nicht darum, das Rad neu zu erfinden, sondern die vorhandenen Ressourcen bestmöglich zu nutzen." Eines ist klar: Die Zeit der hingeknallten Schlagworte und gut verkäuflichen Klischees ist vorbei. Nach dem medialen Coming-out folgt nun die wahre Auseinandersetzung mit dem ökologischen Bauen. (Wojciech Czaja, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 16.2.2012)