Literatur im Netz der digitalen Zeiten: Auch die Autoren selbst nehmen Öffentlichkeitsarbeit in die Hand, weil der Geltungsdruck aufgrund der stets ansteigenden Zahlen von Publizisten weiter steigt.

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Jeder sieht es kommen, aber keiner will es so richtig wahrhaben, es fühlt sich an wie die Ruhe vor einem Sturm aus Bits und Bytes. Wenn nämlich das gedruckte Buch als Träger von Literatur ausdient, dann legt das auf die gesamte Branche und den Kulturbetrieb eine immense Bringschuld, sich zu verändern.

Im Moment ist sich der deutschsprachige Markt augenzwinkernd sicher, dass das E-Book noch keine ernstzunehmende Konkurrenz für seine geleimten Papierstapel darstellt, auch wenn die Verkaufszahlen sinken und ein Blick über den großen Teich zeigt, wohin die Entwicklung geht: Der Bücherriese Amazon verkauft in den USA mittlerweile mehr elektronische als gedruckte Bücher, sicher auch, weil die Staaten im Gegensatz zu Deutschland und Österreich keine Buchpreisbindung haben und E-Book-Bestseller dort weniger als einen Euro kosten können.

Die Buchpreisbindung will Preisdumping unterbinden - alle Verkäufer müssen sich an einen Preis halten. Das Gesetz soll das Buch als Kulturgut schützen, seine Sinnhaftigkeit ist, wie jene von Acta, umstritten. In Deutschland und Österreich betrifft es auch E-Books, Länder wie Großbritannien oder die Schweiz kennen hingegen gar keine Bindung.

Experiment Fair Pay

Ein exemplarisches Beispiel für die Paradoxie, die hier vorliegt, hat kürzlich für Wirbel gesorgt. Der Berlin Story Verlag hat ein Experiment gestartet, bei der Nutzer E-Books kostenlos herunterladen und dann nach dem Prinzip Fair Pay so viel oder so wenig dafür bezahlen können, wie sie für angemessen halten. Diese Innovation wurde nach zwei Wochen von Preisbindungstreuhändern untersagt und darf so nicht mehr stattfinden. Dafür verstärkt sie den Diskurs über die rechtlichen Rahmenbedingungen des E-Book-Handels. Daniel Kehlmann hat die Kontroverse zum E-Book in einem Interview mit der "Welt" so ausgedrückt: "Als Lobbyist müsste ich natürlich dagegen sein, aber als Leser finde ich es toll."

Die Entwicklungen abseits der deutschen Langsamkeit bestätigen, dass die Literatur sich ein wenig fürchten muss, in den Walzen der wirtschaftlichen Vereinnahmungsmaschinen ihren Kunstwerkcharakter zu verlieren, und auch, dass die Schizophrenie des Buchhandels zwischen bewahrender Liebe und ökonomischem Zwang immer stärker wird. Das Buch ist letztlich nicht nur Ware, sondern auch Kulturgut.

Literatur der Moderne auf einer Festplatte

Es wäre nicht das erste Mal, dass die Allgegenwart des Internets zur Talfahrt einer Industrie führen würde - die Erosion der Musikbranche sollte alle Warnblinker aktiviert haben. Noch dazu ist im Unterschied zu Filmen oder Discografien das illegale Treiben mit Büchern aufgrund der geringen Dateigröße viel schwieriger zu verhindern, der Gratistauschplatz von E-Books folglich auch größer als weithin bekannt. Theoretisch ist es möglich, auf einer einzigen Festplatte die gesamte Literatur der Moderne zu speichern. Noch Fragen?

Während altbackene Intellektuelle noch feurige Streitschriften für den Erhalt des gedruckten Buches kritzeln, ist die PR-Riege schon im Netz angekommen und bespielt alle Kanäle gleichzeitig. So gibt es in jüngster Zeit mehrfach Konzepte motivierter Publicity-Jünger, die die Vorteile des Internets zur Vermarktung ihrer Produkte nutzen.

Aber auch die Autoren selbst nehmen Öffentlichkeitsarbeit in die Hand, weil der Geltungsdruck aufgrund der stets ansteigenden Zahlen von Publizisten und Konzepten wie "Book on Demand" oder E-Books im Eigenverlag weiter steigt. Schriftsteller müssen heute nicht mehr nur gut schreiben, sondern auch die Bedingungen neuer Medienökonomien ausnützen können.

"Unvergessliche Reisen"

Auf Facebook oder Twitter kann man zum Beispiel etlichen Schreiberlingen in die privaten Gefilde schauen. Robert Menasse postet unter dem Album-Namen "Unvergessliche Reisen" Bilder von den Hotelzimmern, in denen er übernachtet. Thomas Glavinic betreibt eine umfangreiche FB-Seite mit Fotos, Ankündigungen zu Lesungen und Verweisen zu seiner Hauptpräsenz im WWW.

Dass in den sozialen Netzwerken die Autoren und Autorinnen vermeintlich auf Augenhöhe mit Lesern und Groupies agieren, bietet dem Fan die Möglichkeit, selbst als Autor aufzutreten und Lobesworte zu formulieren, und sei es nur mit 140 Zeichen. Natürlich erst nachdem man den "Like"- oder "Follow"-Button gedrückt und sich in die Statistik eingeschrieben hat. Die reale Kommunikationsmöglichkeit mit Idolen ist dabei eher der Ausnahmefall, da die meisten Autorenseiten auf FB von fremden Personen betreut werden oder nur auf Wikipedia-Artikel verweisen. Anders machen es Autoren, die nicht von dahergelaufenen Usern kommentiert werden wollen: Elfriede Jelinek hat eine relativ einflussreiche Website, die Mehrwegkommunikation unterbindet und ihr so erlaubt, ihre "Höhlenposition" zu bewahren und sich dennoch in den öffentlichen Diskurs einzuschreiben.

Kurzvideo statt Frontallesung

14.000 Fans können auf Daniel Glattauers Fan-Profil einen Video-Teaser zu seinem neuen Bestseller "Ewig Dein" sehen. Das zeigt, dass Verlage die Struktur der "digitalen Wolke" als Multiplikator von Mundpropaganda schon nützen. Der Hanser Verlag hat erkannt, dass ein ästhetisch ansprechendes Kurzvideo der einstündigen Frontallesung in Zeiten der Digitalisierung den Rang abläuft. Orange Press nennt dieses Format "Trailer", Suhrkamp noch eher antiquiert "Videobeitrag". Es gibt schon ganze Webportale, die nur der filmischen Präsentation von Büchern dienen, das bekannteste ist zehnseiten.de, der Name ist Programm. Dass deren Videos auch bei anderen Webseiten wie jener der Zeit oder bei Amazon aufscheinen, zeigt die Vorteile der prägnanten virtuellen Form auf: Sie ist leicht zu rezipieren, beliebig zu verbreiten und wirft in diesem Fall sicher auch schon einiges an Geld ab.

Lettra.tv zeigt zu neuen Büchern kurze Clips, inklusive Blättern von Buchseiten und inszenierten Kameraschwenken über das Layout. Auf Vorablesen.de kann, wer sich dafür interessiert, zahlreiche Bücher schon vor dem Erscheinungstermin anlesen. Der Link zum Kaufangebot ist selbstredend nicht weit. Textprojektor.net nimmt sich bewusst das Musikvideoformat zum Vorbild, um literarische Werke zu präsentieren, hier aber mit dem Anspruch, Video und Literatur künstlerisch zu verbinden.

Hermann Hesse auf Facebook

Copyrightbestimmungen müssen in der digitalen Sphäre neu definiert werden, das zeigt auch die Situation von Marlene Streeruwitz, deren Literatur auf der eigenen Webpage einfach kopiert wurde, weil die Nationalbibliothek ihrem Recht auf Dokumentation nachkommen will. Kein Problem mit dem Urheberrecht hat hingegen der Suhrkamp Verlag mit einer Strategie, die sogar Tote auf Facebook wiederauferstehen lässt. Auf einer eigens eingerichteten Seite können Liebhaber Fragen an den Siddhartha-Autor stellen und, man glaubt es kaum: Hermann Hesse antwortet ... auf Facebook. Hier wird das Netz zur Sphäre der Unsterblichkeit.

Es bleibt zu hoffen, dass diese Lebendigkeit nicht nur auf den PR-Bereich beschränkt bleibt und Künstler auch bald in der Kreativarbeit nachziehen mit neuen, innovativen und bisher unmöglichen Formen der Literatur, denn Grenzen sind hier keine gesetzt. Es gibt ja auch schon Vorläufer, wie ein intermediales E-Book-Format namens Libroid.com, das FANG-Online-Portal oder den Facebook-Roman von Zwirbler.com. Das E-Book von Caroline Smailes namens 99 Reasons Why bietet Lesern anhand eines Fragebogens aus 11 Versionen das für sie passende Ende der Geschichte, je nachdem, wie sie die Charaktere bewerten. Erste Literatur-Apps wie Snippy sind auch schon aufgepoppt.

Wo bleiben die großen revolutionären Würfe?

Wo aber bleiben die großen revolutionären Würfe, die interaktiven Märchen, die Smartphone-Romane, die täglich wachsen, die Hybride aus Computerspiel und Fantasyroman, die animierten Reiseratgeber, die philologischen Hypertext-Geschichten und die ständig aktualisierten Enzyklopädien? Ach so. Zumindest Letztere gibt es schon. Wikipedia sei Dank. (Timon Mikocki, Album, DER STANDARD/Printausgabe 10./11.2012)