Es ist ein offenes Geheimnis, dass sich Italien schwertut, sein Kulturerbe zu pflegen. Da mutet ein von der Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore veröffentlichtes "Manifest für die Kultur" wie ein Lichtblick an. " Ohne Kultur keine Entwicklung", lautete das Motto der Denkschrift, die bereits im Februar in der sonntäglichen Kulturbeilage erschien. Sie enthielt ein Fünf-Punkte-Programm für "eine Verfassung, die den virtuosen Kreis zwischen Wissen, Forschung, Kunst, Kulturschutz und Beschäftigung wieder schließen möge".

Eine Aufforderung, die prompt von unzähligen Kulturschaffenden unterzeichnet wurde, von Claudio Abbado über Daniel Barenboim bis zu Stéphane Lissner, von Dacia Maraini über John Banville bis zu Vincenzo Cerami, von Bob Wilson über Peter Brook bis zu Toni Servillo. Ein wahres Signier-Happening. Der Staat selbst trat dem Club der Unterzeichner bei, und zwar in den Personen dreier Minister: Corrado Passera, Lorenzo Ornaghi und Francesco Profumo, jeweils verantwortlich für Entwicklung, Kultur und Bildung.

Bei näherer Betrachtung mutet das Manifest verdächtig an. Zum einen sind die fünf Punkte so vage formuliert, dass man sie getrost als nichtssagend bezeichnen kann, zum anderen aber liegt die Betonung nicht auf Kultur, sondern auf Entwicklung, auf materiellen, sprich wirtschaftlichen Werten. Das Manifest tendiert dahin, die Unfähigkeit des Staates als unabänderlich darzustellen, um sie sich zunutze zu machen. Motto: Wo der öffentliche Bereich versagt, springt der private ein.

Die fünf Punkte wirken wie ein versteckter Aufruf zur Entstaatlichung des Kulturerbes. Dem Argument "lieber private Gelder als gar keine" mangelt es nicht an Überzeugungskraft. Ein weiterer Verdacht drängt sich indes auf: Was, wenn das Manifest nicht uneigennützig wäre? Il Sole 24 Ore ist keine unabhängige Wirtschaftszeitung, sondern im Besitz der Confindustria, Italiens größter Unternehmerorganisation.

Neben ihrer Verlagstätigkeit produziert sie Kultur, vornehmlich im Ausstellungsbereich. Das Manifest ist in einem Punkt sehr konkret: in der Steuerentlastung für kulturfördernde Unternehmen. Gibt es keine Alternative zwischen öffentlicher Inkompetenz und eigennütziger Hilfe? Lissner hat seine Unterschrift mit einem treffenden Kommentar begleitet. Der Chef der Scala warnt vor der zunehmenden Privatisierung und versucht, dem Manifest eine ideelle Note zu verleihen: der private Geldgeber als civil servant.  (Eva Clausen aus Rom, DER STANDARD, 15.3.2012)