Giuseppe Morra hat ein privates Nitsch-Museum in Neapel aufgebaut, das 2008 eröffnet wurde.

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Vom Kloster aus hat man den vielleicht eindrucksvollsten Blick über die Stadt am Fuße des Vesuv.

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Informationen: www.museonitsch.org

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Wer im Zuge einer Reise nach Neapel einen wahrhaft erhebenden Blick auf die Stadt genießen will, der sollte sich tunlichst für den österreichischen Künstler Hermann Nitsch begeistern - oder zumindest so tun, als ob. Zuerst gilt es, die steilen Stiegen und verwinkelten Gassen zum Museo Archivio Laboratorio per le Arti Contemporanee Hermann Nitsch hinaufzusteigen - und sich lobend über die in einem ehemaligen Elektrizitätswerk untergebrachte Ausstellung aus blutigen Reliquien, Phiolen und Zangen samt dazugehörigen Videos der betreffenden Aktionen zu zeigen. Erst danach ist es angebracht, den Gründer und Direktor des Museums, Giuseppe Morra, höflich zu fragen, ob es wohl auch möglich sei, die Vigna San Martino zu besichtigen.

Kunst im Kloster

Diese liegt nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt und ist trotz ihres Namens nicht nur ein Wein-, sondern auch ein Obst- und Gemüsegarten, wie er verwunschener nicht sein kann. Angelegt haben ihn vor Jahrhunderten die Kartäusermönche des Klosters San Martino, dessen barocke Gestalt bis heute vom Hügel Vomero die Stadt beherrscht und über den Garten wacht. Nach der Eroberung Neapels durch die Truppen Garibaldis und dem Anschluss an das vereinte Italien wurden die Mönche enteignet und die Kartause in ein Museum umgewandelt. Der Garten aber verwahrloste. "Dreimal hat die Vigna seitdem den Besitzer gewechselt. Zuerst gehörte sie einer noblen Familie, die sie an eine andere noble Familie verkaufte, von der ich sie 1988 erworben habe", erzählt Morra. Die Frage, wie es eigentlich sein könne, dass sich ein Garten von unglaublichen siebeneinhalb Hektar mitten im Zentrum der Stadt in Privatbesitz befinde, kann selbst Morra nicht beantworten. Vielleicht will er aber auch nicht. "Sie haben natürlich recht. Das sollte eigentlich nicht möglich sein", sagt er nur - und lächelt verlegen.

Der Kunstmäzen Morra lebt selbst am Fuße der Vigna, in einem schlichten Haus mit grandiosem Ausblick. Seine Assistentin öffnet das Tor zum Garten und entschuldigt sich, dass sie nicht mitgehen könne. Alleine folgen wir dem steilen Weg hinauf, über Terrassen mit Feigen- und Olivenbäumen, vorbei an blühenden Narzissen und Märzenbechern und vom Baum gefallenen Orangen. Bald sind wir höher als die Dächer der höchstgelegenen Häuser der Stadt, über uns nur mehr die alles überragende Kartause. Und vor uns die weltberühmte Bucht von Neapel, der Vesuv, und weit im Hintergrund die Halbinsel von Sorrent und die Insel Capri.

Orgiastische Aktionen im landwirtschaftlicher Lehrpark

Menschen sind hier keine zu sehen, nur der grüne Hang und das Blau des Himmels und des Meeres. Ab und an ein Geräteschuppen, ein kleiner Traktor, ein enges Feld von Kohlköpfen. Und rundherum, in chaotischer Umzingelung, die zunehmend verstummende Stadt. Die knatternden Motorroller, die hupenden Autos, die lauten Marktschreier - alles scheint in weiter Ferne. Genau übrigens wie Nitsch, seine Arbeiten und das Museum. Stünde da nicht plötzlich ein etwas morbid wirkender, offener Schober mit Tischen, Sitzgelegenheiten und einer Feuerstelle darin, der die Erinnerung an ein Schreiben an der Wand des Museums weckt: "Die anfangs kleiner geplante 130. Aktion wurde durch das Einbeziehen des Weingartens von Peppe Morra zu einer großen Aktion inklusive Prozession erweitert. Gez. Hermann Nitsch".

Kennengelernt haben sich die beiden 1974, als Morra in seiner Galerie den ersten Auftritt des Meisters in Italien organisierte. Damals intervenierte die Polizei, Nitsch verbrachte die Nacht im Gefängnis. Seitdem ist man befreundet, Morra kuratierte weitere Aufführungen des Orgien-Mysterien-Theaters und sammelte Reliquien, Gegenstände, Informationen. Bis er sich schließlich 2008 einen Traum erfüllte und das Museum eröffnete, das heute seine Stiftung, die Fondazione Morra, für die Stadt betreibt. 2010 ist es Morra sogar gelungen, seine Vigna San Martino von der Regierung als kulturhistorisches Nationalgut anerkennen und schützen zu lassen.

Doch genutzt wird der Garten nicht nur als Schauplatz orgiastischer Aktionen. "Er dient auch als eine Art landwirtschaftlicher Lehrpark, in den wir ganze Schulklassen führen, um den Kindern die Landarbeit näherzubringen, wie zum Beispiel das Aussäen, den Baumschnitt, die Erntetechniken. Danach organisieren wir Theateraufführungen und Ähnliches für die Kinder", sagt Morra.

Ein barockes Ganzes

Und dann ist da noch der Wein. Ein paar tausend Reben, so Morra, stünden auf dem Hügel im Zentrum Neapels. Davon trägt eine Hälfte rote Aglianico-, die andere weiße Falanghina-Trauben. "Wir erzeugen jährlich 10.000 Flaschen, zu wenig, um sie in den Handel zu bringen. Wir trinken das meiste davon selber oder servieren es bei unseren Prozessionen, Vernissagen und Aktionen", sagt er. Was der bescheidene Mäzen nicht erwähnt, ist, dass anlässlich der Ernte die dreißig Mitglieder des Vereins Amici della Vigna San Martino stets eine Verkostung organisieren, die zu den trendigsten Wein-Events Neapels gehört - und bei Weinliebhabern geradezu mythischen Status genießt. "Das liegt wahrscheinlich daran, dass der Wein von einem Hügel im Stadtgebiet stammt. So etwas gefällt den Leuten", sagt Morra.

Mittlerweile steht die Sonne tief. Ein blutrotes Licht fällt auf den Hafen und die Stadt, die sich rühmt, die weltweit einzige zu sein, in der jährlich ein Wunder geschieht. Nämlich jenes des eingetrockneten Blutes von San Gennaro, das in einer Ampulle im Dom von Neapel aufbewahrt wird. Und das sich anlässlich einer Prozession in den Händen des Bischofs alle Jahre wieder verflüssigt. Plötzlich fügen sich das Blut, die Ampulle, der Bischof, die Kartause, Nitsch und die Prozessionen zu einem barocken Ganzen zusammen. In dessen Zentrum, und auf halben Weg zwischen den Dächern Neapels und dem azurblauen Himmel, liegt der einzigartig verwunschene Weingarten des Kurators Giuseppe Morra. (Georg Desrues/DER STANDARD/Rondo/16.3.2012)