Es vergeht kaum ein Tag ohne Proteste gegen die Haft der im Oktober 2011 wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Gefängnis verurteilten, inzwischen erkrankten früheren ukrainischen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko (51) und ohne Interviews mit ihrer um die Freilassung der berühmten Mutter kämpfenden Tochter, Jewgenija Timoschenko. Im Schatten der weltweit als politisch motivierte Rache kritisierten Timoschenko-Prozesses wurde kürzlich ihr bereits im Dezember 2010 festgenommener ehemaliger Innenminister Juri Luschenko, auch wegen "Amtsmissbrauchs" zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.

Dass es sich hier um lebensbedrohliche Verhältnisse handelt, beweist der dieser Tage veröffentlichte Bericht des Antifolterkomitees des Europarates über "entsetzliche" Zustände in ukrainischen Gefängnissen und über "weitverbreitete" Misshandlungen zur Erpressung schneller Geständnisse im Polizeigewahrsam. Allerdings deutet zumindest bisher nichts darauf hin, dass Präsident Wiktor Janukowitsch dem Druck der EU und der Vereinigten Staaten nachgeben und Timoschenko sowie die anderen Oppositionellen freilassen wird.

Die Ikone der "Orangen Revolution" von 2004, die damals Janukowitsch wegen Wahlfälschung von der politischen Bühne weggefegt hatte und ihn in den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2010 fast besiegte, ist von seiner wichtigsten politischen Rivalin im Gefängnis möglicherweise zu einer noch gefährlicheren Märtyrerin geworden. Wie die amerikanischen Zeithistoriker R. Menon und A. Moytil in ihrem Aufsatz "Konterrevolution in Kiew" (Europäische Rundschau 2012/1) feststellten, die Anklagen gegen Timoschenko seien absurd und der Prozess habe nur bewirkt, dass die Ukraine just in dem Augenblick diskreditiert worden sei, als sie sich um eine Annäherung an den Westen bemühte, um ein Freihandelsabkommen mit der EU abzuschließen.

Man darf freilich weder Timoschenko noch den sie damals bekämpfenden Präsidenten Juschtschenko heilig sprechen. Wegen ihrer Inkompetenz, Schwäche und selbstmörderischen Machtkämpfe scheiterte letztlich die "Orange Revolution". Trotz berechtigter Kritik herrschte damals aber eine labile Demokratie. Wie der ukrainische Publizist Mykola Rjabschuk formulierte, "bot die Orange Regierung zwar kein Vorbild an Rechtsstaatlichkeit, war jedoch im Vergleich zu den Raubtieren, die heute an der Macht sind, ein harmloser Pflanzenfresser ... Heute ist die gesamte Macht in einer einzigen, skrupellos autoritären Hand konzentriert." (Osteuropa, November 2011). Die zwei zitierten US-Professoren sehen "die Ersetzung der einzementierten Herrschaft der Kommunisten durch die einzementierte Herrschaft der Oligarchen" im Machtkartell um Janukowitsch.

Trotzdem zeigen die jüngsten Entwicklungen einen schwachen und international isolierten Präsidenten in der Falle zwischen dem Druck seiner politischen Gönner in Moskau (durch hohe Erdgaspreise) und dem in Brüssel wegen des Timoschenko-Prozesses suspendierten, lebenswichtigen Assoziationsabkommen mit der EU. Es geht also bei dem Fall Julia Timoschenko auch darum, eine verdeckte Diktatur in einem großen Land an der Ostgrenze der EU zu verhindern. (DER STANDARD, 20.3.2012)