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Parlamentarier diskutieren über die Bildungsreform.

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Draußen auf Ankaras Straßen verläuft die Debatte nicht minder intensiv.

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Seit Wochen beschäftigt sich die türkische Politik mit einer Grundrechenaufgabe. Jetzt treibt die Auseinandersetzung über die auf den ersten Blick durchaus überschaubare Addition 4+4+4 ihrem Höhepunkt zu. Die konservativ-muslimische Regierungspartei AKP wird ihr Gesetz über eine Schulreform durch das Parlament pauken, während sich die Mitglieder der Lehrergewerkschaft den Wasserkanonen der Polizei stellen und die größte Oppositionspartei, die kemalistisch-sozialdemokratische CHP, ihre wöchentliche Fraktionssitzung coram publico ins Stadtzentrum von Ankara verlegt hat.

4+4+4 ist nicht 12, sondern eine reine Glaubensfrage. Für die AKP geht es um mehr Flexibilität im Schulwesen und – Regierungschef Tayyip Erdogan hat es so proklamiert – die Aufzucht einer "religiösen Generation". Für die CHP ergibt 4+4+4 bestenfalls 8/2. Die Hälfte der türkischen Jugend fliegt aus der Schule oder wird unfertig fürs Leben muselmanisch indoktriniert, so prophezeit Kemal Kilicdaroglu, der Vorsitzende der CHP. Beides keine gute Option. Acht Jahre dauert die Schulpflicht in der Türkei (plus vier Jahre Oberstufe, je nach Notenlage und Entscheidung). Nun sollen zwölf Jahre verpflichtend werden, wobei das letzte Drittel eine Oberstufe sein kann, eine berufsausbildende Form oder ein "Fernstudium": Letzteres soll konservative Familienväter gnädig stimmen und deren Töchter einen Unterricht zu Hause neben Herd und Stickarbeit ermöglichen, ohne auch nur in Sichtkontakt mit dem Männergeschlecht zu kommen. Es ist einer der Punkte, gegen den die CHP auf die Barrikaden geht. Ein wirkliches Plus für die Aufspaltung der zwölf Jahre aber hat Bildungsminister Ömer Dincer – lässt man den Reformplausch einmal beiseite – nicht anführen können. Tatsächlich geht es in erster Linie um die Rehabilitierung der Imam-Hatip-Schulen, durch die seinerzeit auch der junge Erdogan in Istanbul ging.

In die Imam-Hatip-Schule geht, wer fromm ist oder wenigstens fromme Eltern hat. Man muss am Ende nicht unbedingt Imam werden, sondern kann auch eine prima Karriere in der Bank machen oder Dozent für Atomphysik werden. Seit der Hinausbeförderung der Regierung des Islamisten Necmettin Erbakan durch die Armee 1997 (er regierte mit der geschäftstüchtig-liberalen Tansu Çiller) sind die Imam-Hatip-Schulen erst ab der Oberstufe als "lise" oder Gymnasium offen. Das wird die Regierung Erdogan rückgängig machen: Imam-Hatip ab September dieses Jahres wieder auch schon für 14-Jährige.

Die ganze Schulreform geht an den eigentlichen Problemen des türkischen Schulwesens vorbei, sagen Bildungsexperten, die sich für keine politische Partei deklarieren. Die Regierung hätte zum Beispiel besser eine verpflichtende Vorschule eingeführt, welche das Lernen fördern, die großen sozialen Unterschiede in den türkischen Familien abschwächen und sehr viel mehr Chancengleichheit für die Kinder schaffen würde. Davon abgesehen sind sich aber auch die Parteipolitiker – religiöse und nicht-religiöse – in einem Punkt einig: Die staatlichen Schulen in der Türkei sind lausig.

Eine kleine Studie des wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Think tank TEPEV in Ankara (zugegebenermaßen kein Hort der AKP) hat unlängst auf die im internationalen Vergleich sehr bescheidenen Englischkenntnisse türkischer Schüler hingewiesen. "Ingelizce? Çok az...", heißt es in der Regel bedauernd, wobei junge Türkinnen wiederum eher schüchtern untertreiben und gemeinhin dank größerer Lerndisziplin etwas mehr Ingelizce auf Lager haben als die Burschen.

Selim Koru und Jesper Akesson, die Autoren der TEPEV-Studie, haben jedenfalls den English Proficiency Index (EPI) von 2011herangezogen und daraus ein Fallbeispiel für das Versagen der türkischen Schulbildung gemacht. Auf der EPI-Liste steht die Türkei auf Platz 43 von 44 Ländern, etwa hinter Chile, Saudi-Arabien oder Indonesien; Platz 44 ist Kasachstan. Eine ganze Reihe von Ländern mit geringerem BIP pro Kopf und weniger guten Wirtschaftsdaten als die Türkei bringt bessere Englischschüler hervor. Die Türkei gibt zum einem zwei Drittel weniger Geld pro Schüler aus als die obere Liga der Englischkönner (Norwegen und Co.), rund 12.700 Dollar im Jahr. Schlechte Lernbücher, unqualifizierte Lehrkräfte, fehlende Curricula, ein im europäischen Vergleich mittlerweile später Start des Fremdsprachenunterrichts erst ab der 4. oder 5. Klasse tragen zur schlechten Note bei.

"Wir hatten sogar eigene Stunden für Konversation in Englisch", erinnert sich ein heute 25 Jahre alter Türke an seine Schulzeit an einem Gymnasium in Mardin. Das Problem: Der Lehrer sprach selbst nicht gut Englisch und interessierte sich auch nicht wirklich für den Unterricht. "Wir hatten vielleicht 15 Minuten halbwegs konzentrierten Unterricht. Dann sind wir Basketball spielen gegangen oder haben Mädels ausgecheckt."

2005 schaffte die AKP-Regierung das "hazırlık" ab, ein zusätzliches Schuljahr zur Vorbereitung, in dem türkische Schüler 25 Stunden in der Woche Englisch paukten, um in die Oberstufe zu kommen. Pauken heißt dabei Kreuzerl machen: "Es wird wenig geschrieben in den türkischen Schulen, und noch weniger im Englischunterricht", sagt Selim Koru. Die Multiple-choice-tests für Englisch liegen oft auch den türkischen Tageszeitungen bei als Service für die jungen Leser. Man muss nicht wirklich Englisch sprechen können, um sich in einem solchen Eingangstest für die Universitäten oder die allgemeine Beamtenprüfung über die Runden zu retten.

Selbst in den besseren Universitäten in Istanbul, wo Seminare in englischer Sprache geführt werden – auf der Bilgi oder der Bogazici (Bosporus) Universität – stehen Studenten in aller Regel auf und erklären, sie würden ihre Redebeitrag nun lieber auf Türkisch liefern, um ihre Idee besser auszudrücken, so sagt Koru. Englisch lernt man als Schulkind in der Türkei allenfalls auf teuren Privatschulen für umgerechnet rund 5000 Euro im Jahr und einem native speaker als Lehrer – oder auf einer Nachhilfeschule der muslimischen Gülen-Bewegung. Gravierend ist das Englisch-Defizit aber natürlich wegen der großen wirtschaftlichen Ambitionen der Türkei. Bis 2023, dem 100. Jahrestag der Republik, will die Türkei die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt sein; derzeit ist sie auf Platz 17. Da heißt es also noch viel Exportieren und Geschäftsverhandlungen auf Englisch zum krönenden Abschluss bringen. Bisher ging es in vielen türkischen Unternehmen noch ohne A-Note. "Sie machen es eben in gebrochenem Englisch oder mit Hilfe von Dolmetschern", hat Koru festgestellt.