Die turbulente ungarische Geschichte wurde und wird von genialen individuellen Leistungen in der Wissenschaft und Kunst, Musik und Literatur geprägt. Es gibt kaum noch eine andere Nation mit so vielen Nobelpreisträgern pro Kopf der Bevölkerung wie Ungarn. Man könnte mit den Namen der toten und lebenden Talente aus Ungarn im 20. Jahrhundert beinahe das Telefonbuch einer Kleinstadt füllen.

Nur vor diesem Hintergrund kann man die große Aufregung und den leidenschaftlichen Streit quer durch die politischen Lager wegen des international bekannten Falles des ungarischen Staatspräsidenten Pál Schmitt verstehen. Was die liberale Wochenzeitung HVG bereits im Jänner berichtet hatte, bestätigten nun die Expertenkommission und der Senat der Semmelweis-Universität in Budapest: Schmitt habe 1992 weite Teile (genau 197 von 215 Seiten) seiner Dissertation abgeschrieben. Dem im Sommer 2010 zum Staatsoberhaupt gewählten ehemaligen Spitzensportler wurde vom Senat die Doktorwürde aberkannt.

Die meisten Beobachter im In- und Ausland hatten bereits nach dem Bericht der Expertenkommission den Rücktritt des Präsidenten erwartet. Ministerpräsident Viktor Orbán, der nach dem Ablauf des Mandats des angesehenen Rechtsgelehrten László Sólyom den populären Fidesz-Vizepräsidenten, der schon im kommunistischen System stellvertretender Sportminister gewesen war, gegen den Widerstand im engeren Fidesz-Führungskreis als Nachfolger durchgesetzt hatte, hielt sich bedeckt: Die Person des Staatsoberhauptes sei laut Grundgesetz unantastbar. Eine Entscheidung liege ausschließlich beim Präsidenten.

Trotz einer einheitlichen Opposition von links bis zur rechtsradikalen Jobbik-Partei und unverblümter Rücktrittsforderungen von rechtskonservativen Intellektuellen und sogar von solchen Fidesz-Sprachrohren wie Magyar Nemzet, sah aber der 70-jährige Präsident überhaupt keinen Rücktrittsgrund. In drei öffentlichen Erklärungen, zuletzt am Sonntag in einem langen Rundfunkinterview, erklärte Schmitt, er habe keine Absicht zu demissionieren, weil sein Gewissen rein sei. Die Angriffe gegen seine Person seien unwürdig: "Ich bin doch der gewählte Erste Mann des Landes; der die Einheit des Landes, das Funktionieren der Demokratie und den Schutz der Verfassung verantworte." Er werde sogar aus Lauterkeit eine neue Dissertation verfassen.

Auf Transparenten von Demonstranten und in vielgelesenen Internetportalen wurde Schmitt, der in 20 Monaten 231 Gesetze ohne Widerspruch unterschrieben hat, als Gauner und Schwindler, als "Schande des Landes" beschimpft. Als Privatmann könne er kämpfen, aber als Staatspräsident setze er das Prestige seiner politischen Gesinnungsgemeinschaft und des Lands aufs Spiel, jammerte die Pro-Fidesz Wochenzeitung, Heti Válasz. Handelte Schmitt mit seiner offensiven Haltung noch im Einvernehmen mit seinem Erfinder Orbán? Oder war die Marionette eigenständig geworden? Die Tragikomödie um Schmitt war jedenfalls ein überraschendes, ja unbezahlbares Geschenk für die schwache Opposition. Man wird wohl erst später erfahren, warum Schmitt doch den erniedrigenden Rückzug antreten musste. Die Stärke der Zivilgesellschaft und die Empörung der Intellektuellen hatten wohl den Ausschlag gegeben. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 3.4.2012)