Die Wissenschaft ist für den Soziologen Peter Weingart "jener Bereich der Gesellschaft, in dem es nach wie vor am wenigsten Fehlverhalten geben dürfte".

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STANDARD: In den drei Jahren der Kommission für wissenschaftliche Integrität kam es zu einem exponentiellen Anstieg der jährlichen Anfragen von fünf auf 30. Rechnen Sie in Zukunft mit noch mehr Fällen?

Peter Weingart: Das lässt sich nur schwer abschätzen. Offensichtlich scheint, dass es in der Forschung weltweit durch einen stärkeren Konkurrenzdruck zwischen den Wissenschaftern zu mehr Fehlverhalten kommen dürfte. Grundsätzlich sollte zugleich aber auch nicht vergessen werden, dass die Wissenschaft - im Vergleich etwa zur Politik oder zur Wirtschaft - nach wie vor jener Bereich der Gesellschaft ist, in dem es die wenigsten Fälle von Fehlverhalten geben dürfte. Das wiederum liegt daran, dass Wissenschaft nun einmal auf Vertrauen und gegenseitiger Kritik beruht. Es scheint aber auch die Hemmschwelle zu sinken, mögliches Fehlverhalten bei den entsprechenden Stellen anzuzeigen, was ich nicht nur positiv sehe.

STANDARD: Neben den Plagiaten wurden auch Ausbeutungsverhältnisse angezeigt. Aus den Klagen, die ich immer wieder aus dem wissenschaftlichen Nachwuchs höre, dürfte das aber nur die Spitze des Eisbergs sein.

Weingart: Meine eigenen Erfahrungen zum Umgang mit Mitarbeitern stammen von der Universität Bielefeld. Das war eine Reformgründung der 1960er-Jahre, und vielleicht liegt es auch daran, dass mir aus meinem Umfeld solche Formen der Ausbeutung eher fremd sind. Es gibt in dem Bereich natürlich auch nicht so ganz eindeutige Fälle in sehr arbeitsteiligen und kostspieligen Forschungsbereichen wie in der Medizin. So etwas wie Ehrenautorschaften von Professoren auf den Veröffentlichungen ihrer Mitarbeiter sind jedenfalls abzulehnen. Die Fälle von Ausbeutung, die wir in der Kommission bearbeiteten, waren allerdings in ihren Dimensionen erschreckend.

STANDARD: Das jüngste prominente Opfer wissenschaftlichen Fehlverhaltens ist der ehemalige ungarische Präsident Pál Schmitt. Sind sie überrascht, dass er ebenso wie Ex-Außenminister Karl-Theodor zu Guttenberg gehen musste?

Weingart: Erstaunlich finde ich an den beiden Fällen, dass die ethischen Grundsätze, die in der Wissenschaft gelten, tatsächlich auf die Glaubwürdigkeit im politischen Amt durchgeschlagen sind. Frau Merkel hatte sich ursprünglich ja um eine Grenzziehung bemüht, als sie meinte, dass Sie Guttenberg nicht als wissenschaftlichen Assistenten, sondern als Minister eingestellt hat. Und auch Schmitt berief sich darauf, dass seine Fehler in der Wissenschaft nichts mit seinen Fähigkeiten in der Politik zu tun hätten. Diese Grenzziehung hat letztlich weder bei Guttenberg noch bei Schmitt funktioniert.

STANDARD: Halten Sie es für einen Zufall, dass in den letzten Monaten vor allem Politiker beim Plagiieren erwischt wurden?

Weingart: Das hat einerseits natürlich etwas damit zu tun, dass in erster Linie in deren Arbeiten nach Plagiaten gesucht wird - in der Hoffnung, dass man über die Aufdeckung eines Plagiats eine Skandalisierung in den Medien erreicht. Aber es ist andererseits schon auch erstaunlich, dass man bei Politikern so oft fündig wurde.

STANDARD: Dank Google, Wikiplag und Co. scheint man das Plagiatsproblem besser im Griff zu haben. Was aber macht man gegen gekaufte Abschlussarbeiten von Ghostwritern - ein Vorwurf der ja auch bei Guttenberg im Raum stand?

Weingart: Das Anbieten solcher Leistungen wird man weder verbieten noch unter Strafe stellen können. Das heißt, man wird sich an die Nachfrager - also die Studierenden und den wissenschaftlichen Nachwuchs - halten müssen und sie nach dem Motto „Wir entdecken Euch doch" abschrecken. Dabei müssen allerdings auch die Universitäten mitziehen: Mindestens ebenso wichtig ist, dass auch bei den Betreuern der Abschlussarbeiten und den Promotionsausschüssen ein entsprechend hohes Verantwortungsbewusstsein existiert - was längst noch nicht überall der Fall ist.

STANDARD: Liegt ein Problem nicht auch darin, dass einfach zu viele Leute promovieren wollen? Allein an der Universität Wien sind mehr als 10.000 Doktoranden inskribiert. Da kann man doch keine vernünftige Betreuung leisten.

Weingart: In Deutschland brauchte es die Einführung der strukturierten Promotionsausbildung und der Graduiertenkollegs, um die Betreuungsverhältnisse überhaupt erst einmal in das Bewusstsein der Professoren zu bringen. Eine Frage in dem Zusammenhang ist sicher, ob man die Anforderungen für die Dissertation so sehr nach oben schrauben sollte, dass nur jene Leute promovieren, die weiter in der Wissenschaft bleiben - ähnlich wie das mit dem Ph.D. in Nordamerika ist. In dem Sinn könnte auch hier die Promotion zur Habilitation aufgewertet werden. Dem steht entgegen, dass der Doktortitel sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft nach wie vor eine Art von Kapital bedeutet. Und solange dem so ist, wird es wohl auch weiter diesen großen grauen Markt der Dissertanten geben.

STANDARD: Ist diese Titel-Fixiertheit eine Spezifität des deutschen Sprachraums?

Weingart: In den USA jedenfalls käme niemandem in den Sinn, eine Person mit dem Doktortitel anzusprechen - selbst wenn sie ihn hat. Das ist wohl auch der Zustand, der anzustreben wäre. Diese Art von Politiker-Dissertationen, die in den letzten Monaten medial bekannt wurden und die fast alle in den Bereich der Sozial-, Geistes- und Rechtswissenschaften fielen, sind jedenfalls entbehrlich und in keinem Fall mit einer Dissertation in den USA vergleichbar.

STANDARD: In Ihrem jüngsten Buch beschäftigen Sie sich in einem noch anderen Blickwinkel mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik, nämlich der wissenschaftlichen Politikberatung. Gibt es da Länder oder Beratungsformen, die besonders gut funktionieren?

Weingart: Das kann man so nicht sagen, dazu gibt es viel zu große Unterschiede. Die Wissenschaftsberater, die den jeweiligen Regierungschefs zugeordnet sind, erfüllen per definitionem eine andere Funktion als eine Expertenkommission oder die Ressortforschung der Ministerien in Deutschland. Die Wissenschaftsberater geben in erster Linie wissenschaftspolitische Perspektiven vor und welche Prioritäten in Sachen Wissenschaft zu setzen wären. US-Präsidenten sind mit ihren Beratern sehr unterschiedlich umgegangen. Anders ist das mit den ständigen Kommissionen, bei denen es so weit gehen kann, dass die Experten auch Entscheidungen mit treffen - auch wenn das eigentlich nicht ihre Funktion ist, sondern die, unabhängig wissenschaftlich zu urteilen.

STANDARD: Wie ist es denn um die Unabhängigkeit dieser wissenschaftlichen Experten bestellt? Ist die nicht in vielen Fällen eine Illusion?

Weingart: Die völlige Unabhängigkeit und die Interessenlosigkeit der Wissenschafter ist einerseits natürlich eine Idealvorstellung, die so in der realen Welt nicht existiert. Denn natürlich haben auch Forscher ihre Interessen - etwa an der Finanzierung ihrer Forschung. Andererseits ist dieser Verweis auf die neutrale Instanz Wissenschaft nötig, wenn man glaubt, dass wissenschaftliche Rationalität in der Wissenschaft zumindest in bestimmten Fragen überlegen ist.

STANDARD: In den USA jedenfalls scheint unabhängige sozialwissenschaftliche Expertise dieser Art mit dem Siegeszug der privaten Think-Tanks im Aussterben begriffen. Droht so etwas langfristig auch bei uns?

Weingart: Think-Tanks in den USA waren zu Beginn ja oft anerkannte wissenschaftliche Einrichtungen, die im Laufe der Zeit zu ideologischen Einrichtungen verkamen. Und in gewisser Weise spiegeln sie damit ja auch die Ideologisierung der US-Politik wider. Diese Art der Ideologisierung und auch den religiösen Fundamentalismus haben wir in Europa nicht - und ich hoffe, dass wir diese Entwicklung auch nicht nachvollziehen.

STANDARD: Im Unterschied zu den USA scheint aber auch die Skepsis gegenüber neuen Technologien in Europa sehr viel stärker ausgeprägt. Das kritisierte unlängst auch die neue EU-Wissenschaftsberaterin Anne Glover als Standortnachteil. Für wie bedenklich halten Sie denn diese Skepsis?

Weingart: Ich halte das für ein falsches Argument. Die Bevölkerung ist nur skeptisch gegenüber Technologien, von denen sie selbst von deren Risiken betroffen ist - oder von denen sie noch nicht einschätzen kann, ob sie betroffen sein könnte. Das Beispiel Kernenergie ist nur allzu instruktiv. Wie Sozialwissenschafter seit Jahrzehnten zeigen, geht es dabei ja nicht darum, ob die Technologie selbst sicher ist, sondern ob man eine sichere Organisation durch Menschen gewährleisten kann. Und dem scheint, wie die Beispiele von Three Mile Island bis Fukushima zeigen, einfach nicht so zu sein, weil die Technik zu komplex ist. Dass die Skepsis auch daher rührt, darüber scheinen langsam auch die Naturwissenschafter nachzudenken.

STANDARD: Welche Möglichkeiten sehen Sie, dass Wissenschaft und Öffentlichkeit sich etwa über riskante Forschung austauschen? Das Konzept des Public Understanding of Science, also der wissenschaftlichen Bildung, hat ja eher nur begrenzt Erfolg gehabt.

Weingart: Wie das in den meisten Fällen betrieben wurde, ist in der Tat lächerlich. Nun ist ja auch davon die Rede, dass man mit den Wissenschaften in den Dialog treten soll - aber das ist in den meisten Fällen nur eine Form von Legitimationsbeschaffung von staatlicher oder wirtschaftlicher Seite. Von Dialog ist da meist keine Spur. Beachtlicher sind Versuche etwa der Royal Society oder von zivilgesellschaftlichen Initiativen, wo es wirklich Versuche gibt, Zwiegespräche und Diskussionen auf Augenhöhe zu ermöglichen. Das sind aber schwierige Prozesse, die viel Geduld brauchen. Aber jeder individuelle Lernerfolg bei einer solchen Diskussion ist tausendmal mehr wert als eine PR-Veranstaltung, die als Dialog verkauft wird. (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 4.4.2012)