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"Ein Schulamokläufer ist meistens ein Außenseiter, der die Zurückweisungen und Kränkungen nicht mehr aushält", sagt Heike Lettner.

(Im Bild der Campus der Oikos University in Kalifornien, wo am Montag ein ehemaliger Student sieben Menschen erschossen hat.)

Foto: APA/EPA/DaSilva

"Wenn man selbst bedroht wird, der Partner oder die eigenen Kinder in Gefahr sind, kann jeder Mensch eine Grenze überschreiten", sagt die Psychologin Heike Lettner. Sie stellt in ihrem Buch "Wenn Menschen töten" die Frage, ob in jedem Menschen ein Mörder steckt, und kommt zu einer eindeutigen Antwort. Woher Gewalt und Aggression kommen und warum 90 Prozent aller Gewalttaten von Männern begangen werden, erklärte sie Marie-Theres Egyed.

derStandard.at: Sie stellen in Ihrem Buch die Frage: Steckt in jedem von uns ein Mörder? Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?

Lettner: Ich würde die Frage ohne zu zögern mit Ja beantworten. Die Anlagen dazu haben wir alle. Es kommt natürlich auf die Persönlichkeit des Menschen an und die Situation, in der er sich befindet. Wenn man selbst bedroht wird, der Partner oder die eigenen Kinder in Gefahr sind, kann jeder Mensch diese Grenze übertreten.

derStandard.at: Gibt es das Böse im Menschen?

Lettner: Wir haben alle eine böse, eine dunkle Seite. Aber wir haben gelernt, sie in Zaum zu halten. Schadenfreude und Ähnliches haben wir alle. Wenn man es nicht mehr kontrollieren kann, aus welchem Grund auch immer, kann sich das bei manchen in Gewalt äußern.

derStandard.at: Der Verhaltensforscher Kurt Kotrschal schreibt in einem Kommentar, man müsse das Böse erklären. Menschen wie Anders Breivik und Mohamed Merah (Amokläufer von Toulouse, Anm.) seien Massenmörder mit sozial deformiertem Gehirn, deren Taten man niemals verhindern könne. Können Sie dem zustimmen?

Lettner: Dem kann ich nicht hundertprozentig zustimmen. Bei jedem jungen Menschen, bei jedem Amokläufer hat es im Leben Kreuzungen gegeben, wo er anders abbiegen hätte können. Es gibt für jeden negativen Beispielfall einen Menschen mit sehr ähnlichen Voraussetzungen, der aber nicht zum Amokläufer geworden ist. Er hat dann eine Kreuzung in eine andere Richtung genommen. Vielleicht gab es eine wichtige Bezugsperson oder Lebensveränderungen, die sich positiv ausgewirkt haben.

derStandard.at: Können Sie psychologische Muster feststellen, die bei Amokläufern immer vorkommen?

Lettner: Es gibt einige Punkte, die man immer wieder findet. Ein Schulamokläufer zum Beispiel ist häufig ein Außenseiter, der die Zurückweisungen und Kränkungen nicht mehr aushält und Aufmerksamkeit sucht, die er im schlimmsten Fall durch massive Gewalt zu finden glaubt.

derStandard.at: Wie würden Sie den Amoklauf von Anders Breivik im Speziellen bewerten?

Lettner: Es handelt sich um einen extremen Fall, der viel Aufmerksamkeit erregt hat. Breiviks Motive könnte man als politisch bezeichnen. Es ist ein Extremismus, der für uns nicht nachvollziehbar ist. Es wird der Tod von Menschen in Kauf genommen, um irgendein sogenanntes höheres Ziel zu erreichen.

derStandard.at: Wie bewerten Sie seine Zurechnungsfähigkeit?

Lettner: Es ist schwierig und auch wenig seriös, eine Ferndiagnose zu stellen. Aber ich habe Schwierigkeiten zu glauben, dass Breivik zurechnungsunfähig ist. Bei Breivik steht eine psychische Erkrankung im Raum, da sind sich die Gerichtsgutachter einig. Zuerst wurde er für zurechnungsunfähig befunden, dann wieder nicht. Zurechnungsunfähig zu sein bedeutet nach dem österreichischen Gesetz, dass man zum Zeitpunkt der Tat nicht wusste, dass man etwas Unrechtes tut. Daher konnte man auch nicht anders entscheiden. Bei Breivik kann man davon ausgehen, dass er den Unterschied zwischen Recht und Unrecht wohl kannte, wenn auch in seiner eigenen Interpretation.

derStandard.at: In Bezug auf Anders Breivik schreiben Sie, dass die Erklärung, er sei "ein völlig Irrer, ein Geisteskranker", zu kurz greift. Ist es nicht für die Gesellschaft leichter zu glauben, dass es sich hier um einen Geisteskranken handelt?

Lettner: Es ist einfach nicht nachvollziehbar, dass jemand zu einem Jugendlager auf eine Insel fährt, um Jugendliche zu erschießen. So jemand funktioniert für uns nicht normal. Ich finde trotzdem "geisteskrank" oder "völlig irre" zu einfache Erklärungen. Es hilft uns, die Sache wegzuschieben und den größeren Rahmen nicht anschauen zu müssen. Es gibt gesellschaftliche Probleme, die auch hier eine Rolle spielen, aber nicht zur Sprache kamen. Es wird auch in seinem Leben Punkte gegeben haben, wo er, aus welchen Gründen auch immer, die falschen Abzweigungen genommen hat.

derStandard.at: Sie beschäftigen sich in Ihrem Buch mit Gewalt und Aggression. Wo fängt Gewalt an?

Lettner: Es ist schwer zu sagen, wo die Grenze ist. Aber es geht darum, wo andere verletzt werden, nicht nur im körperlichen Sinn. Auch verbale Gewalt muss thematisiert werden. Es fängt dort an, wo ein anderer gedemütigt und erniedrigt wird.

derStandard.at: Woher kommen Aggression und Gewalt?

Lettner: Dabei spielen die Psychologie, die Biologie und die Sozialisation eine Rolle. Das Kind lernt zu Hause Gewalt, wenn der Papa die Mama schlägt - das ist die psychologische Ebene, man nennt das "Lernen am Modell". Das Kind lernt dadurch kaum andere Bewältigungsmechanismen für Problemsituationen und eine niedrige Frustrationstoleranz. Biologisch gesehen spielen unter anderem auch verschiedene Hormone eine Rolle - wie zum Beispiel Testosteron. Der Testosteronspiegel ist bei Männern höher und mit ein Grund für den höheren Anteil bei Gewalttätigkeiten. 90 Prozent aller Gewalttaten werden von Männern begangen.

Hier kann man auch die Frage stellen, ob Aggression angeboren ist oder ein Kind einfach nur "Temperament" hat. Natürlich spielt auch die Sozialisation eine Rolle, also wie jemand aufwächst und welche Vorbilder es gibt. Sozialfaktoren wie Arbeitslosigkeit oder Armut kann man nicht generell als Einflussfaktoren festmachen. Auch Kinder aus "gutem Haus" lernen Gewalt, wenn der Papa die Mama schlägt. Es kommt auch darauf an, wie das Umfeld ist.

derStandard.at: Sie schreiben auch über Gewalt in Beziehungen und stellen dabei die Frage: Warum bemerkt keiner etwas? Warum?

Lettner: Wir bemerken mehr, als wir zugeben wollen. Es ist dann immer eine Frage: Wie gehe ich damit um? Traue ich mich, mich einzumischen? Spreche ich die Person an, wenn jemand in meinem Umfeld wieder einen komischen blauen Fleck hat? Es gibt viel Wegschauen in unserer Gesellschaft. Es fehlt oft an Mut und Zivilcourage, jemandem Hilfe anzubieten.

derStandard.at: Sie schreiben von einer Gewaltspirale. Was meinen Sie damit?

Lettner: Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt waren oder sind, beschreiben die Vorgänge oft sehr ähnlich. Es kommt in einer ersten Phase zu Spannungen und Streitereien. Türen knallen, vielleicht fliegt auch Geschirr, das Opfer versucht alles, um eine Eskalation zu verhindern, was für einen gewissen Zeitraum auch gelingt.

Dann kommt es doch zu Gewalt, der Mann schlägt zu, beide sind völlig schockiert. Die Frau fragt sich, warum schlägt mich mein Mann, der Mann fragt sich, warum er das getan hat. Dann kommt als dritte Phase die der Wiedergutmachungen, Entschuldigungen und Beteuerungen, dass es nie wieder passieren wird.

Bis wieder ein Anlassfall kommt, Gewalt angewandt wird, und danach kommen wieder die Entschuldigungen. Die Phasen werden immer kürzer und die Spirale dreht sich nach unten, bis es irgendwann eskaliert. Eskalation ist aber der Extremfall. Es gibt Frauen, die den Mut fassen wegzugehen, und natürlich auch Männer, die sich Hilfe suchen. (Marie-Theres Egyed, derStandard.at, 4.4.2012)