Wie soll man die Liebe und das Glück leben? Und wie die Zeit zwischen Geburt und Tod füllen? Filmstill aus "What Is Love".

Foto: Thimfilm

Ich schaue in den Spiegel. Mein Spiegelbild. Daran habe ich mich gewöhnt. Auf Fotografien - ohne das Seitenverkehrte - komme ich mir fremder vor. Vor dem Spiegel bin ich mir jedoch sicher, das bin ich.

Als kleiner Bub war das anders. Vor dem ovalen Flügelspiegel im Schlafzimmer meiner Großmutter. Stellte ich die Flügelteile des Spiegels auf beiden Seiten in die richtigen Winkel, zeigte er mich beinahe rundum. Und ich stand da und glaubte, ich könne meinen Blick auf mich selbst austricksen, so unentwegt versuchte ich in dem Spiegel einen Blick auf mich zu erhaschen, bei dem ich in Wirklichkeit ganz woanders hin schaute.

So sehr ich an eine solche Möglichkeit glaubte und so nah ich mich in unzähligen Augenblicken daran sah, es gelang nie, es konnte nicht gelingen. Nicht mit den bloßen Augen und einem Spiegel, so viele Flügel konnte er gar nicht haben.

Ob der Bub vor dem Spiegel vielleicht nur eitel oder einfach verliebt war, frage ich mich natürlich auch. Und die Suche nach jenem unbewussten Moment an sich selbst, in dem man in Wirklichkeit ganz woanders hin blickte, wäre nur eine nachträgliche Erfindung? Eitel vielleicht, eitel war ich vermutlich immer, doch als kleiner Bub wohl noch nicht eitel genug, um mich von einer solchen Suche abbringen zu lassen. Und sicherlich nicht verliebt, denn ein bloß Verliebter sucht im Spiegel nach keiner unzugänglichen Wirklichkeit an sich selbst, ärgert sich höchstens über Pickel und korrigiert seine Frisur.

Jahre später sollte aus dem Buben vor dem Spiegel ein Schriftsteller werden. Und gerade der Schriftsteller war vor dem Spiegel nur zu oft ein verliebter Mann und konnte sich lang nicht mehr an den noch kleinen Mann vor dem mächtigen Schminktisch der Großmutter erinnern.

Dabei versucht gerade der Schriftsteller in keinem Augenblick je etwas anderes, als der Bub im Schlafzimmer geheim und inständig immer wieder aufs Neue probierte: einen Moment an Wirklichkeit zu finden, einen Moment an Wirklichkeit an sich selbst, ohne ihn durch einen Gedanken, einen Wunsch, eine Angst oder Sehnsucht verfälscht zu haben.

Die Wirklichkeit als solche hat jedoch in der Literatur keinen besonders guten Namen. Allein das Erfundene bekommt darin jenen besonderen Nimbus zugesprochen, der für tatsächlich Geschehenes unerreichbar ist. So, als müsste man um die höchsteigenen Illusionsansprüche fürchten, tauchte im Erzählten nur etwas auf, das womöglich bereits einmal erlebt worden ist.

Gänzlich verstehen konnte ich das nie. Denn so, wie mir der Anblick des Christkindes, der mir verbotenerweise einmal durchs Schlüsselloch vergönnt war, auf keine Weise meine Illusionen nahm, sondern sie sogar vergrößerte, mussten mir auch Karl Mays Bücher jedes Mal aufs Neue versprechen, dass der Autor niemand anderer als Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi war und die Bücher Dokument seiner Erlebnisse.

Ist es deshalb nun Zeit für das Geständnis, im Grunde viel eher der Bub vor dem großen Flügelspiegel geblieben als je ein richtiger Schriftsteller geworden zu sein? Hatte ich, so gesehen, tatsächlich immer bloß von mir allein geschrieben? Im Bankräuber und Mörder in Der Räuber wie in der liebesängstlichen Journalistin von Ein Paar oder im Schriftsteller und Fußreisenden von Über die Alpen?

Wie ist das nun genau mit der Wirklichkeit und dem Erfundenen, wie ist das mit den Fakten, der Illusion, dem Erzählen und der Wahrheit? - Vermutlich müsste man jetzt weit ausholen, und all die Minenfelder einer Gegenwart beschreiben, die immer mehr Informationen über sich selbst speichert, abrufbar macht und darin zu einem Heute der Gleichzeitigkeit geworden ist, in dem die technische Weiterentwicklung an Kommunikationsmitteln und Medien alles immer unmittelbarer sein lässt - während wirkliche Nähe immer ungewisser wird.

Oder man sieht einfach der Frau am Beginn von Ruth Maders neuem Film What Is Love zu. Wie sie auf einen zuläuft, an einem sonnigen Morgen in einer Allee, ohne einem näher zu kommen, doch nah genug, um die Träger ihres Leibchens auf den nackten Schultern zu sehen und die unwillkürlichen Bewegungen ihres Gesichts beim Laufen.

Es war an einem kalten Februartag, kurz vor der Berlinale-Premiere des Films. Ich hatte das Glück, dass Ruth Mader während der letzten Tonabnahme nichts gegen einen weiteren Zuseher hatte: ein kurzer, befangener Moment beim Betreten des Saals, dann jeder auf seinem Platz im leeren Kinodunkel, etliche Sitzreihen voneinander entfernt.

Schwarzblende, Musik, ein gezupftes Saiteninstrument, und diese Frau in ihrem blauen Lauftrikot. Ein letzter hoher und übermütiger Zupfer, danach die Filmtitel: What Is Love. Gebannt blickte ich auf die Frau, die nun beim Frühstück saß. Jetzt war sie geschminkt, jetzt war es ihr Tagesgesicht. Danach sah ich sie mit ihren Patienten, mit ihrer Familie und dem neugeborenen Kind ihrer Schwester.

Vor allem jedoch ist diese Frau allein. Allein auf ihrem großen Wohnzimmersofa, allein an einem zu großen Esstisch. Bis sie abends nach dem Abschminken auf eine Weise in ihr Doppelbett steigt, als lasse sie eine Hälfte darin für jemand übrig, den es nicht mehr gibt oder womöglich nie gegeben hat.

Die Episode mit der Ärztin Saskia Maca, wie auch alle anderen in unterschiedlichen Lebenssituationen spielenden Teile von What Is Love, versucht nicht, der sogenannten Realität einen besonders wirklichen Ausschnitt zu entreißen, sie zu ertappen, sozusagen auf frischer Tat, wie ich das als Bub mit den Spiegeln stets versuchte.

Ruth Mader hingegen - so erzählte sie mir nach dem Film in einem kleinen, zugigen Gürtelcafé - suchte ihre Protagonistinnen und Protagonisten anhand einer bestimmten Vorstellung dessen aus, was aus ihren Leben in einem Film erzählbar sein könnte. Sie besuchte sie zu Hause, lernte ihren Alltag kennen, führte mit ihnen Gespräche und legte Szenen fest, die wie für einen Spielfilm gedreht wurden.

Und es ist ein intimer Film geworden, mit einer Klarheit und Kraft, in der es keine ungewollte Nähe braucht. Deutlich wie nie ist mir angesichts dessen, dass es in einem Erzählen, wie ich es suche, nie ein Entweder-oder zwischen tatsächlich Erlebtem und Vorgestelltem gibt. Allein so entsteht jene präzise und feinsinnige Selbstverständlichkeit, in der What Is Love Alltägliches wie Existenzielles nie bloß zeigt oder gar bloßstellt, sondern spielt.

Denn gespielt, das wird hier in Wirklichkeit. Genau entlang dieser schmalen Linie zwischen Realität und Erfindung, auf der allein jene Augenblicke von Wahrheit auftauchen, die selbst der umfassendste Spiegel nicht zeigt. Wie im Leben - in einem Film, der in Szenen wie der folgenden als naher Fremdling auf all die Fiktionen unserer Gegenwart trifft, deren größte die des unmittelbar Dokumentierten ist.

Es ist der Anfang zur zweiten Episode: ein Mann in einem Bürogebäude. Sein schwarzer Dreiteiler mit dem weißen Hemd und der roten Krawatte wirkt eine Spur zu feierlich. Er wirkt akkurat und bemüht in allem, doch nicht glücklich.

Als er abends seinen Wagen neben dem Haus parkt, ist es bereits finster. Alle schlafen. Er isst nichts, balanciert mit einem dicken Ordner und seinen beiden Taschen eine wacklige Treppe ins Obergeschoß, schlüpft dort in ein Doppelbett, in dem zwischen ihm und der schlafenden Frau ein schlafendes Kind liegt, küsst das Kind, atmet geräuschvoll und nimmt seine Brillen ab.

"Du, Walter, du warst diese Woche so gut wie nie zu Hause", sagt die Frau am nächsten Tag zu ihm. Sie sitzen unbeholfen an einem Gartentisch. Er hat bereits wieder die schwarze Anzugsweste an, die rote Krawatte, ein weißes Hemd, spielt mit seinen Fingern und sagt: "Stimmt. Ich weiß. Aber du kennst die Hintergründe." Er räuspert sich und fügt hinzu: "Nicht, dass ich es absichtlich mache." Seine Backenknochen und die Muskeln seiner Wangen arbeiten. Gleich wird sie ihn fragen: "Lieben wir uns noch?" - "Gute Frage", lautet daraufhin seine Antwort.

Und die Frage, ob ein solches Gespräch im wirklichen Leben der beiden je stattgefunden hat, ist in keinem Augenblick entscheidend. Das ist die Kunst und Wahrheit dieses Films. (Martin Prinz, Album, DER STANDARD, 7./8./9.4.2012)