An einem eisigen Jännertag des Jahres 1996, eine österreichischen Delegation unter dem damaligen Außenminister Wolfgang Schüssel in Sarajevo: In den nächsten Stunden hatten die Österreicher Gelegenheit, in Ansätzen die Realität des Bosnienkrieges zu erleben, der 1992, also heute vor 20 Jahren, begonnen hatte. Damals war gerade das Friedensabkommen von Dayton in Kraft getreten.

Beim Anflug auf den Talkessel musste man eine Wolkenbank durchstoßen und flog im nächsten Moment knapp über den Geschützstellungen der Serben, aus denen die Stadt zwischen Frühjahr 1992 und Herbst 1995 beschossen worden war. Die Belagerung von Sarajevo war die längste des 20. Jahrhunderts. Neben der Landebahn lag das Wrack einer Antonow-Transportmaschine - Sarajevo musste während der Belagerung von der internationalen Gemeinschaft gefahrvoll aus der Luft versorgt werden. Auf dem Weg vom Flughafen ein freistehendes Haus, total zerschossen, auf das ein Sarkastiker "Welcome to Sarajevo" gesprayt hatte. Schüssels Leibfotograf wollte ein Symbolbild. Der spätere Kanzler folgte brav den Regieanweisungen: "Bitte ein paar Schritte zurück". Ein britischer Offizier vom UNPROFOR-Begleitkommando stürmte herbei und wies auf einen dünnen roten Draht entlang der Straße: Minen.

Die Weiterfahrt zeigte dann das Bombardement nach ethnischen Gesichtspunkten. Auf total unversehrte Häuserzeilen (ursprünglich von Serben bewohnt) folgten total zerschossene (bewohnt von bosnischen Muslimen), immer schön abwechselnd. Vereinzelt gab es noch Schilder mit der Aufschrift "Pazi - Snajper! (Vorsicht - Scharfschützen!). Die Belagerer schossen mit Vorliebe auf Zivilisten. Im Zentrum ging es vorbei an der völlig ausgebrannten Nationalbibliothek und an der Begova-Moschee (1530/31), die einige Artillerietreffer erstaunlich gut überstanden hatte. Die Hügel, von denen pro Tag durchschnittlich 329 Granaten abgefeuert wurden, schienen zum Greifen nah.

Es war, wie gesagt, der Tag von Dayton. In Sarajevo, das immer als multiethnisch und liberal galt, konnte man nach dem, was geschehen war, nicht mehr zusammenleben. Konkret hieß das, dass die Serben aus ihren eigenen Vierteln und denen, die sie den Bosniern und Kroaten weggenommen hatten, ausziehen mussten. Der Österreicher-Konvoi fuhr an langen Zügen von Menschen mit Hausrat auf den Schultern vorbei. Eine riesige schwarze Rauchsäule stand über einer Fabrik, die die Serben zum Abschied noch angezündet hatten.

Der Krieg hatte begonnen, weil die Bosnier, wie vorher die Slowenen und Kroaten, weg wollten aus einem "Jugoslawien", das nur noch von dem serbisch-nationalistisch-sozialistisch-mafiösen Regime des Slobodan Milosevic dominiert war. Ethnische Säuberungen und Kriegsverbrechen begingen alle Konfliktparteien, die der Serben wogen am schwersten. Der Krieg hatte erst ein Ende als die Nato ernstlich Angriffe gegen die Serben flog.

Bosnien ist immer noch dreigeteilt unter katholischen Kroaten, bosnischen Muslimen und orthodoxen Serben und steht unter internationaler Verwaltung. Der Krieg forderte rund 100.000 Tote. Etwa 90.000 Bosnier flohen nach Österreich, 60.000 sind geblieben. Sarajevo ist schön wiederaufgebaut. Geblieben ist die Erinnerung, was im Europa des späten 20. Jahrhunderts noch möglich war.  (Hans Rauscher, DER STANDARD, 7./8./9.4.2012)