Kenan Evren in Gips: Die Titelseite des türkischen Satiremagazins Uykusuz (Schlaflos) stellt diese Woche den 94-jährigen Junta-Führer Kenan Evren dar. Er war nicht zum Gerichtstermin in Ankara erschienen, weil er sich den Arme gebrochen haben soll.

Foto: Bey

Nach drei Anhörungen vor der 12. Strafkammer in Ankara in dieser Woche ist das Verfahren gegen die beiden noch lebenden Generäle der Militärjunta von 1980 erst einmal auf 11. Mai vertagt worden. Das Gericht lehnte einen Antrag auf Verhaftung des mittlerweile 94-jährigen Kenan Evren und des 87-jährigen Tahsin Şahinkaya ab. Beide waren zu den Verhandlungsterminen nicht erschienen, ein medizinisches Gutachten war auch ein Jahr nach Aufnahme des staatsanwaltlichen Verfahrens noch nicht fertig, ein neues wurde sicherheitshalber angeordnet. Die Anklageschrift gegen die beiden Greise wurde deshalb erst gar nicht verlesen. Türkische Gerichtsverfahren sind oft wunderlich bis erratisch und in jedem Fall außerordentlich langsam, doch der Prozess gegen die Putschgeneräle ist von historischer Bedeutung. Er wird als Leistung der konservativ-muslimischen Regierungspartei AKP in die Geschichte der Türkischen Republik eingehen: Erstmals versucht der demokratische Staat eine rechtliche Aufarbeitung seiner Putschgeschichte.

Für den ausländischen Beobachter zumindest etwas überraschend hielten sich die Kommentatoren in der türkischen Presse diese Woche nicht lange mit der historischen Tragweite des Prozesses auf. Hüseyin Gülerce in der regierungsnahen Tageszeitung Zaman war noch einer jener, der diese große Zäsur in der Geschichte betonte. Er wies in seinem Kommentar besonders auf das Verdienst der AKP hin, im September 2010 per Referendum die Verfassungsänderung durchgesetzt zu haben, mit der die bis dahin geltende Schutzklausel für die Putschisten vor rechtlicher Verfolgung gekippt worden war: „Wir haben wieder gesehen, wie wichtig die 58 % Ja-Stimmen im Referendum vom 12. September 2010 waren. Denn die Anführer des Staatsstreiches können dank des „Ja“ vor Gericht gestellt werden. Es gibt nichts Wichtigeres in den vergangenen zwei Jahrzehnten der türkischen Geschichte als das „Ja“. Das „Ja“ vom 12. September 2010 hat den Weg zur Demokratisierung geöffnet und zu der Geisteshaltung, die sagt: 'Von nun an treffe ich selbst die Entscheidung über mich.' Das Schicksal wollte es, dass das Referendum vom 12. September dem Staatsstreich vom 12. September (1980) ein Ende gesetzt hat.“

Derya Sazak ging in der liberalen Tageszeitung Milliyet ein Stück weiter. „Ein Bürger mit durchschnittlicher demokratischer Kultur wird zustimmen, dass dieser Prozess angesichts von 60 Jahren Putschgeschichte der Türkei einfach nur spät kommt.“ Sazak kritisiert auch Süleyman Demirels Desinteresse an dem Gerichtsverfahren und dessen Haltung gegenüber dem Putsch, durch den er selbst 1980 aus dem Amt des Regierungschefs gestürzt worden war. Demirel hatte diese Woche erklärt: „Dieses Volk hat mich zum Ministerpräsidenten und zum Staatspräsidenten gewählt, ich habe meine Rechnung mit dem 12. September beglichen“; Demirel führte sieben Mal die Regierung, darunter von November 1979 bis zum 12. September 1980 und – als Comeback nach den Putschjahren – ein letztes Mal von 1991 bis 1993, danach war er Staatspräsident bis zum Jahr 2000.

Sazak akzeptiert nicht Demirels Einstellung. „Der einzige Weg, gegen die Militärdiktatur anzukämpfen, ist nicht dieser Logik zu folgen“, schrieb er, „man muss sich dem Coup rechtzeitig entgegenstellen“. Die AKP habe das in den vergangenen zehn Jahren mit Hilfe der Ergenekon-Prozesse getan nach der Erfahrung vom 28. Februar 1997 und dem 27. April 2007 – das erste Datum steht für die Entmachtung der Regierung von Necmettin Erbakan durch das Militär (sie wird als „post-moderner Coup“ beschrieben), das zweite für eine Warnung der Armeeführung, die während der umstrittenen Wahl des AKP-Politikers Abdullah Gül zum Staatspräsidenten auf der Webseite der Armee platziert worden war.

Andere Kommentatoren weisen vor dem Hintergrund des Putsch-Prozesses ähnlich und konkreter auf Versäumnisse und ungelöst gebliebene große Probleme der türkischen Politik hin. "Der 12. September steht groß vor uns", schrieb Koray Çalişkay in der liberalen Tagezeitung Radikal, aber "ist unsere Verfassung nicht auch ihre Verfassung? (die Putsch-Verfassung von 1982 ist mehrfach geändert worden, aber immer noch in Kraft, Anm.) Ist nicht der YÖK, der die Hochschulen kontrolliert, so allgegenwärtig wie der MGK (der Nationale Sicherheitsrat, in dem das Militär der Politik Vorschriften machte, Anm.). Ist unsere Lösung für die Kurdenfrage nicht weiter durch die nationale Sicherheitsmentalität definiert? ... Sagen wir nicht: Was ich sage, gilt. Ich bin derjenige, der die Pfeife in der Hand hält. Ich lasse jedes Gesetz annehmen, das mir passt (eine Anspielung auf Erdogans autoritären Stil und die jüngste Annahme des Gesetzes zur Schulreform, Anm.). Bestimmen wir nicht heute, wo wir nicht die Organisation finden können, die hinter Dinks Mord steckt, dass zwei Telefongespräche schon Beweis genug sind, um jemanden als Anführer einer illegalen Organisation zu bezeichnen? Sind wir, die wir Steine werfende Kinder, jene, die Literatur schreiben, Journalisten, die Nachrichten schreiben, als Terroristen einordnen, so verschieden von den Leuten des 12. Septembers, die jeden als Terroristen bezeichneten?"

Çalişkay nennt den Prozess gegen Evren und Şahinkaya "leer", Oral Çalişlar - ein renommierter Kommentator und ehemals linker Aktivist, der ins Gefängnis gesteckt wurde - spricht in derselben Zeitung von der Türkei, die zum "Land der politischen Prozesse" geworden sei. Hasan Cemal wiederum stellt in Milliyet eine Parallele zwischen der erbitterten kompromisslosen Gegnerschaft in der türkischen Innenpolitik in den Jahren vor dem Putsch und heute her. Damals hieß das Dauerduell Süleyman Demirel gegen Bülent Ecevit, der Konservative gegen den seinerzeit Linken; heute ist es Tayyip Erdogan gegen Kemal Kilicdaroglu, den Chef der sozialdemokratischen CHP. Der große demokratische Konsens fehle, stellte Cemal fest, diesen Konsens bräuchte es aber, um eine neue demokratische Verfassung zu schreiben und die Kurdenfrage zu lösen. Zur Erinnerung: Die jüngste, sehr umstrittene Schulreform passierte den Bildungsausschuss während einer Prügelei zwischen Abgeordneten der Regierungs- und der Oppositionspartei (AKP-Parlamentarier hatten alle Stühle im Sitzungsraum besetzt) und wurde dann im Parlamentsplenum mit der absoluten Mehrheit der AKP angenommen.

Ein großer Teil der türkischen Bevölkerung – alle unter 35 – können mit dem Putsch von 1980 nicht viel anfangen, so möchte man meinen. Sie waren Kinder, als Evren, der Führer der Junta, 1989 auch seine Zeit als Staatspräsident beendete. Sie gingen vielleicht in Schulen, die noch seinen Namen tragen (das soll sich in den kommenden Monaten ändern), und wurden in den jüngst erst abgeschafften „Sicherheitskursen“ von Offizieren über die Rolle der Armee als selbst ernannte Bewahrerin der Republik und Putschorganisation unterrichtet. Der Rest ist erzählte Geschichte im Wohnzimmer, die Erinnerung der Eltern an den blutigsten und gesellschaftlich tief greifenden Umsturz. Doch der Nationalismus und das autoritäre Denken von 1980 haben sich in jede Generation hineingefressen. "Ich bin ein Putsch-Kind", stellte Çalişkay in dem oben zitierten Kommentar fest.