Manuela Macedonia: "Es geht in erster Linie darum, dass optimale kindliche Entwicklung kein Zufall bleibt, wie es bisher gewesen ist, und dass man sensible Entwicklungsphasen mit viel Wissen über das Gehirn gekonnt begleitet. Nur so kann das Potenzial jedes Kindes zur optimalen Entwicklung kommen."

Foto: Max-Planck-Institut Leipzig

Nicht allein unsere genetische Veranlagung bestimmt die Leistungsfähigkeit des Gehirns. Es ist vor allem die frühkindliche Förderung, die zu einer besseren Vernetzung der Gehirnzellen führt. Kinder, die früh gefördert werden, haben auch später bessere Chancen, sich neues Wissen anzueignen. "Es geht in erster Linie darum, dass optimale kindliche Entwicklung kein Zufall bleibt", sagt Manuela Macedonia, Wissenschaftlerin am Max-Planck Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, im Interview mit derStandard.at. Reize und die Umwelt beeinflussen die Gehirnentwicklung: "Wolfgang Amadeus Mozart wäre niemals Mozart geworden, wenn er als Sohn eines Senners im Salzburger Land ohne Zugang zu Musikinstrumenten aufgewachsen wäre."

derStandard.at: Warum soll man eine Fremdsprache in frühen Kinderjahren lernen?

Macedonia: Das Gehirn verändert sich mit der Zeit, und es wird leistungsfähiger, wenn Sie es früh lernen lassen. Ein Kind, das eine Zweitsprache mit zwei oder drei Jahren erlernt, erwirbt nicht nur die sprachliche Kompetenz, es stärkt seine "Hardware", also sein Gehirn. Später kommt ihm diese Veränderung zugute, das Kind wird weitere Sprachen leicht lernen. Das System Gehirn wächst mit der Aufgabe, es steigert sich mit dem Lernen, mit der Herausforderung.

derStandard.at: Gilt das nur im Bereich der Sprache?

Macedonia: Es gilt in anderen Bereichen genauso. Nehmen wir zum Beispiel die Musik: Ein Konzertpianist verfügt über ungehörige motorische Fertigkeiten. Wenn ein Kind tatsächlich mit drei Jahren bereits am Klavier sitzt, hat es die Chance, diese Fertigkeiten zu erwerben und dadurch Konzertpianist zu werden. Fängt das Kind erst mit zehn, zwölf Jahren an, Klavier zu lernen, wird es möglicherweise ein sehr gutes Amateurniveau erreichen, aber niemals zur Spitze gehören - statistisch gesehen. Natürlich sind Ausreißer in der Statistik immer möglich.

Wolfgang Amadeus Mozart wäre niemals Mozart geworden, wenn er als Sohn eines Senners im Salzburger Land ohne Zugang zu Musikinstrumenten aufgewachsen wäre. Dasselbe gilt für Hermann Maier, der mit drei Jahren seine ersten Ski unter dem Weihnachtsbaum fand und täglich auf dem Schnee unterwegs war.

derStandard.at: Die Umwelt beeinflusst also stärker die Entwicklung des Gehirns als die genetische Veranlagung?

Macedonia: Ja. Selbstverständlich spielen die Gene eine Rolle, aber in einem viel kleineren Ausmaß, als alle bisher dachten. Selbst wenn Hermann Maier optimale Gene für den Skisport hätte, aber in Hannover aufgewachsen wäre mit einer Woche Skifahren im Jahr in der Flachau, wäre er nie Weltmeister geworden. Wenn ich ein Fremdsprachendesaster bin, hat mein Kind trotzdem die Chance, zum Fremdsprachentalent zu werden, wenn ich es früh genug fördere.

In den kognitiven Neurowissenschaften wird momentan in diesem Bereich intensiv geforscht und es gilt das Motto von Sebastian Seung: "Ich bin nicht mein Genom, ich bin mein Konnektom" - also bin ich die Vernetzung meiner Gehirnzellen. In dieser Vernetzung liegt unser Wissen, unser Charakter, unsere Kompetenz in allen möglichen Bereichen. Durch Reize und Input ensteht die Vernetzung auf der Oberfläche des Gehirns, aber auch die Verdrahtung im Inneren, in der sogenannten weißen Substanz. Je früher gefördert wird, desto besser vernetzt sich das Gehirn.

derStandard.at: Was passiert, wenn die Sprachentwicklung nicht gefördert wird?

Macedonia: Es können Defizite in vielen Bereichen entstehen, zum Beispiel kann der Wortschatz verarmen. Die Komplexität des sprachlichen Ausdrucks nimmt ab, dadurch gelingt die sprachliche Differenzierung von Inhalten nicht immer optimal. Auch Rechtschreibstörungen können ein Produkt mangelnder Sprachförderung in den ersten Lebensjahren sein. Früher tendierte man dazu, das Thema genetischen Defekten zuzuschreiben, mittlerweile weiß man, dass es nicht nur an den Genen liegt, wenn das Kind Probleme im Bereich Legasthenie oder Dyslexie hat.

derStandard.at: Wie wirkt sich der veränderte Konsum von Medien auf die Entwicklung von Sprache aus?

Macedonia: Leider beschäftigen uns elektronische Medien immer mehr und rauben uns Zeit für Wichtiges, mitunter auch für die Kommunikation mit Kindern. Ein Kind lernt Sprache durch die Interaktion mit Bezugspersonen. Wenn diese Interaktion nicht in ausreichendem Ausmaß vorhanden ist, ist die Sprachentwicklung des Kindes defizitär. Ein Kind kann eine Sprache oder eine Fremdsprache leider nicht durchs Fernsehen lernen. Das haben Experimente von Patricia Kuhl gezeigt.

Oft ersetzt die Märchen-CD das Vorlesen des Märchens. Das ist nicht optimal, denn durch das Medium kann das Kind nicht interagieren, nicht fragen, nicht selbst etwas dazu sagen, nicht jene Bereiche sprachlich erweitern, die ihm wichtig sind. Darüber hinaus spielen die Kleinen gerne mit piepsenden Geräten. Sie vergeuden dadurch Zeit für die kommunikative Interaktion mit Erwachsenen - also für ihre Sprachentwicklung.

derStandard.at: Frühkindliche Förderung ist auch ein sozialer Faktor. Wohlhabende oder gut ausgebildete Eltern fangen früher mit der Förderung an.

Macedonia: Ja, leider sprechen die Statistiken für diesen Trend. Deswegen - damit die kognitiven Unterschiede zwischen Wohlhabenden und Nichtwohlhabenden nicht allzu groß werden - ist es wichtig, dass die Möglichkeit einer frühkindlichen Förderung für alle Kinder gegeben ist, das jedes Kind die Chance hat, sich einem Instrument zu nähern, sich ausreichend zu bewegen, eine Zweitsprache kennenzulernen.

Aus diesem Grund bin ich für den Besuch einer Krabbelstube und eines Kindergartens: Dort werden Kinder gezielt gefördert. Selbst die Skeptiker werden zugeben, dass im Kindergarten nicht ferngesehen wird. Optimal wäre die "natürliche" Frühförderung in der Großfamilie, in der sich alle Mitglieder um die Kinder kümmern und sie mit viel Zeit und Liebe durch die ersten Lebensjahre begleiten. Aber das wird in unserer Gesellschaft immer mehr zur Utopie, daher ist die institutionalisierte Frühförderung auf breiter Basis extrem wichtig.

derStandard.at: Was halten Sie davon, einen verpflichtenden Kindergartenbesuch einzuführen?

Macedonia: Nur so kann man ausschließen, dass ein Kleinkind einige Stunden am Tag Fernsehen konsumiert. Im Kindergarten wird das Kind stattdessen sozial interagieren, spielen, basteln, zeichnen, sich bewegen - vielleicht auch eine Zweitsprache lernen. Man muss sich vor Augen halten, dass die ersten fünf Jahre im Leben eines Menschen jene sind, in denen aus Sicht des Gehirns das Lernen optimal funktioniert.

Es ist die "sensible" Phase, von der viele Pädagogen sprechen. Verstreicht diese Zeit ohne optimale Förderung, entstehen Entwicklungslücken, die kaum nachzuholen sind.

derStandard.at: Glauben Sie, dass KindergartenpädagogInnen eine universitäre Ausbildung haben sollten?

Macedonia: Ja, ihre Arbeit ist enorm wichtig für die Entwicklung des jungen Menschen, sie sind sozusagen die wichtigsten Personen außerhalb der Familie in der Entwicklung des Kindes. Daher sollten sie zu "Hightech-Spezialisten des Gehirns" ausgebildet werden, all das verfügbare Wissen über Lernprozesse und kindliche Entwicklung bekommen, damit sie in ihrer Tätigkeit die Entwicklung des Menschen, mit der sie betraut werden, gekonnt einleiten und betreuen, denn sie prägen die Köpfe von morgen. Ihre Arbeit spielt eine enorme Rolle in der Gesellschaft von morgen.

derStandard.at: Was geschieht, wenn frühkindliche Förderung schiefgeht?

Macedonia: Wenn ein Kind in seinen jungen Jahren nicht optimal gefördert wird, werden ihm die Chancen genommen, die es sonst hätte. In puncto Sprache zeigen Studien über die Reifung der weißen Substanz im Gehirn, dass gewisse Prozesse mit fünf Jahren bereits abgeschlossen sind. Eine optimale Entwicklung der Muttersprache findet bis zum fünften Lebensjahr statt. Mit circa zehn Jahren ist die sensible Phase des Spracherwerbsprozesses bereits beendet.

Danach kann zwar noch gelernt werden, aber die Lerneffizienz des Gehirns für diese Fertigkeit nimmt ab. Fördere ich ein Kind in seinen ersten fünf Jahren nicht optimal, wird es sprachlich defizitär bleiben. Das heißt natürlich nicht, dass ihm enorme Nachteile entstehen müssen, aber Vorteile wird es auf keinen Fall haben.

derStandard.at: Sind Sie der Meinung, dass kleine Kinder, so wie in manchen asiatischen Ländern, permanent mit Klavierunterricht oder Fremdsprachenlernen gedrillt werden müssen, damit ihnen keine Chancen verloren gehen?

Macedonia: Oft können sich Menschen nur zwei Gegensätze vorstellen, das heißt, Kinder zu drillen oder sie sich selbst zu überlassen. Es geht aber darum, dass diese wichtigen Entwicklungsphasen erkannt werden und Kindern dementsprechend Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Kinder sollten in ihren ersten Lebensjahren nicht sinnlos Zeit vor dem Fernseher verbringen oder mit einem elektronischen Spiel vergeuden. In dieser Zeit sollten sich die Kleinen bewegen, im Spiel soziale Interaktion betreiben, ins Ballett gehen oder auf einem Pferderücken sitzen und warum nicht auch Englisch spielerisch lernen.

Niemand will Kinder mit Musikunterricht oder Fremdsprachen quälen. Es geht in erster Linie darum, dass optimale kindliche Entwicklung kein Zufall bleibt, wie es bisher gewesen ist, und dass man sensible Entwicklungsphasen mit viel Wissen über das Gehirn gekonnt begleitet. Nur so kann das Potenzial jedes Kindes zur optimalen Entwicklung kommen. (Sebastian Pumberger, derStandard.at, 25.4.2012)