Durchaus skeptisch beurteilt der Philosoph Jürgen Habermas die Lage der EU. Er fordert dazu auf, mehr für das europäische Projekt zu kämpfen: "Ich fürchte, dass dieser Mangel an Leadership einen sehr hohen Preis kosten wird."

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STANDARD: Die Krise in Griechenland bedroht die EU. Außerdem macht sie einen Widerspruch deutlich: Die europäischen Völker verhalten sich bei nationalen Präsidentschafts- oder Parlamentswahlen nicht als "Unionsbürger". Inwiefern ist diese Kluft durch die Konzeption der Union bedingt?

Habermas: Bisher ist die europäische Einigung von den politischen Eliten mehr oder weniger über die Köpfe ihrer Bevölkerungen hinweg betrieben worden. Zunächst waren ja auch nur die Staaten handlungsfähig. Andererseits haben wir schon lange ein europäisches Parlament. Trotzdem haben die politischen Parteien bisher in allen Mitgliedsländern die europäischen Wahlen und Referenden so angelegt, dass die Wähler nur über nationale Fragestellungen und Personen abstimmen konnten. Es hat bisher keine europäische Wahl gegeben, die diesen Namen verdient hätte.

STANDARD: Es gibt einen merkwürdigen Gegensatz zwischen Beiträgen zu demokratischer Willensbildung und Exekutivföderalismus auf EU-Ebene, also dass der Rat von Regierungen beschickt wird.

Habermas: Nun ja, die politische Parteien drücken sich vor Themen, mit denen sie keine Mehrheiten gewinnen können. Das war so lange zu verkraften, wie in den meisten Mitgliedsländern eine passive Zustimmung zu einem Projekt überwog, von dem alle profitierten. Diese Lage hat sich seit Ausbruch der Bankenkrise verändert.

Spätestens seit den Spekulationen der Märkte gegen den Euro und den immer wieder zu spät und zu karg geschnürten Rettungspaketen hat sich die ökonomische Einsicht durchgesetzt, dass die Währungsgemeinschaft ohne politische Union nicht auf Dauer stabilisiert werden kann. Allein eine gemeinsame Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik kann die tiefer liegende Ursache der Krise überwinden - die strukturellen Ungleichgewichte zwischen den Volkswirtschaften der Eurozone. Das verlangt aber einen weiteren Verzicht auf Souveränitätsrechte und die Bereitschaft der europäischen Völker, kurz- und mittelfristige Effekte der Umverteilung über nationale Grenzen hinweg in Kauf zu nehmen.

STANDARD: Kann das umgesetzt werden?

Habermas: Darauf sind die Bevölkerungen nicht vorbereitet. Alle Regierungen und alle verantworten Politiker wissen, dass Kerneuropa die Grenze zu einer Haftungsgemeinschaft längst überschritten hat. Aber alle stützen den nationalen Egoismus mit ihrem Schweigen, mit unvollständigen Informationen oder gar mit falschen Parolen. Ich fürchte, dass dieser Mangel an Leadership einen sehr hohen Preis kosten wird.

STANDARD: Wie lässt sich wieder Vertrauen der Bürger zur EU herstellen?

Habermas: Durch Offenheit und Risikobereitschaft. Aber die angeblich proeuropäischen Parteien müssten bereit sein, für ihre Sache auch gegen demoskopische Mehrheiten zu kämpfen. Dasselbe gilt für die Medien, die in fast allen Ländern der nationalen Politik bloß hinterherlaufen. Die abgeschotteten nationalen Öffentlichkeiten können sich füreinander nur öffnen, wenn die Redaktionen lernen, in ihren Kommentaren und ihren Berichten auch die Perspektiven des jeweils anderen Landes zu berücksichtigen.

STANDARD: Warum sollte man für den Euro kämpfen?

Habermas: Es gibt auch für die potenziellen "Geberländer" gute ökonomisch Gründe, am Euro festzuhalten und dafür im langfristigen Eigeninteresse kurzfristige Nachteile in Kauf zu nehmen. Vor allem müsste der enge ökonomische Fokus erweitert und die politische Dimension dieses großen historischen Projektes in die öffentliche Meinungsbildung einbezogen werden. Unsere Nationalstaaten, nicht nur Österreich, sondern auch Deutschland und Frankreich, sind längst zu klein geworden, um erstens mit der überfälligen Regulierung der Finanzmärkte voranzugehen und zweitens auf die Gestaltung der internationalen Ordnung und die Lösung der drängendsten Probleme noch Einfluss zu nehmen.

Wollen die europäischen Bürger wirklich Suizid begehen? Der nationalstaatliche Rahmen reicht nicht einmal mehr aus, um den kulturellen Reichtum und die sozialstaatliche Substanz ihrer Lebensform ins Museum zu stellen, geschweige denn am Leben zu erhalten.

STANDARD: Sollten EU-Kommissare direkt gewählt werden?

Habermas: Ich bin nicht dagegen. Aber eine solche Einzelforderung, die der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble wie eine Monstranz vor sich herträgt, riecht nach Symbolpolitik. Wir brauchen eine politische Union, also eine regelrechte Vertragsänderung. Das ist keine Kleinigkeit. Dafür brauchen wir zum ersten Mal eine informierte und lange, mindestens zwei Jahre anhaltende europaweite Diskussion. Ebenso unvermeidlich wie aussichtsreich ist allerdings eine solche Union zunächst nur für die Länder der Währungsunion, also für ein Kerneuropa, das sich allerdings für den baldigen Beitritt anderer Länder, vor allem Polens, offenhalten muss.

STANDARD: Ihre Theorie zufolge sollen die "Unionsbürger" als gleichrangig verfassungserzeugend neben den "europäischen Völkern" zu stehen kommen. Die Finanzminister und Regierungschefs kooperieren etwa mit Institutionen wie der Europäischen Zentralbank und nehmen Input aus dem Finanzsektor auf. Wie kann man Vorgänge transparenter gestalten, damit auch der sogenannte "Normalbürger" Einblicke in wesentliche Entscheidungszusammenhänge erhält?

Habermas: Sie beschreiben ganz richtig die Tendenz von Angela Merkel, unsere politischen Ordnungen auf das Format "marktkonformer Demokratien" zurecht zu stutzen. Stattdessen geht es meiner Meinung nach darum, die Demokratie dadurch zu retten, das völlig aus der Balance geratene Verhältnis von Politik und Markt durch ein handlungsfähiges Europa wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen. Mit dem Überleben des Euro steht zugleich die Frage auf dem Spiel, ob wir unsere ohnehin ausgehöhlten nationalen Demokratien vollends zu Fassadendemokratien entarten lassen oder auf europäischer Ebene regenerieren wollen. Diese Frage würde ich auch gerne François Hollande stellen - und meinen nationalrepublikanisch gesonnenen französischen Kollegen.

STANDARD: Die ordnende Idee bürgerlicher Teilhabe ist einem diffusen Unbehagen über vorenthaltene Mitbestimmung gewichen. Wie klassifizieren Sie Phänomene wie den ominösen "Wutbürger"?

Habermas: Als gesunde Reaktion auf die enttäuschende Einsicht, dass der Handlungsspielraum der lokalen und der nationalen Regierungen immer kleiner geworden ist - und dass damit auch die Chancen des einzelnen Bürgers geschrumpft sind, noch irgendeinen Einfluss auf den politischen Prozess auszuüben. Ich halte unsere Wähler im Großen und Ganzen für ziemlich intelligent.

STANDARD: Zugespitzt formuliert: Ist eine Partei wie diejenige der "Piraten" Ausdruck einer postrationalen Haltung zu politischen Inhalten?

Habermas: Diese jungen Leute versuchen es gegen alle Wahrscheinlichkeiten noch einmal damit, die Normen beim Wort zu nehmen.

STANDARD: Die SPD hat 1925 schon die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa gefordert, Joschka Fischer hat in seiner Humboldt-Rede 2000 seine Gedanken über die Finalität der europäischen Integration in der Forderung nach einer Föderation münden lassen. Ist das als Fernziel noch realistisch?

Habermas: Ich halte "mehr Europa" für das einzige realistische Nahziel, vorausgesetzt man will das europäische Projekt nicht ganz in den Orkus fahren lassen. (Alexandra Föderl-Schmid, Ronald Pohl, DER STANDARD, 24.5.2012)