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Spuren des Protests, Fassade des Geldes: Mit einem Wisch ist alles weg - auch die Demokratie?

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Sepp Wall-Strasser

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Es gibt Momente in der Tagespolitik, in denen oft die ganze Wahrheit einer politischen Situation offen vor einem liegt. Ein solcher war sicher der letzte verzweifelte Versuch des nunmehr ehemaligen griechischen Ministerpräsident Papandreou im November 2011, eine Volksabstimmung über den vorher erzwungenen "Schuldenschnitt" für sein Land durchzuführen. Das offizielle Europa reagierte mit Entsetzen und Panik, die Börsen mit Kursstürzen. Es war selten so gefährlich wie in diesen Zeiten, den Souverän - das Volk - zu fragen. In nur wenigen Tagen wurde er von den wahren Machthabern gezwungen, die Volksabstimmung abzusagen und in Konsequenz davon auch zurückzutreten. In Windeseile wurde ein Notenbanker gefunden, das Land aus der Krise zu führen. Beinahe synchron dazu passierte das Gleiche in Rom. Zwar ist die Figur Berlusconi in keiner Weise vergleichbar mit Papandreou, der neu bestellte Premierminister Mario Monti ist aber genau so wenig politisch legitimiert wie sein neuer Amtskollege Papademos. Zufrieden reagierten " die Märkte". Zumindest vorerst. Einer "Expertenregierung" traut man doch viel mehr zu als einer vom Volk gewählten Regierung.

Man stelle sich aber vor: In welchem europäischen Land wäre es noch bis vor kurzem möglich gewesen, binnen knapper zweier Jahre mehr oder weniger per Diktat von außen die Löhne der ArbeitnehmerInnen, die Einkommen der PensionistInnen und Arbeitslosen um bis zu 50 Prozent zu kürzen, hunderttausende Beschäftigte im öffentliche Dienst zu entlassen, Kollektivverträge per Gesetz außer Kraft zu setzen, und "die Arbeits- und Lebensbedingungen an jene der sogenannten Dritten Welt heranzuführen" , wie dies trocken der Wirtschaftsexperte Christos Triantafillou 2011 bei einem Wirtschaftsforum in Linz kommentierte?

Wann konnte das letzte Mal in Europa der Ausverkauf von Staatseigentum- von Energie- und Wasserversorgung, Flughäfen, Häfen, Eisenbahnen bis Glücksspiel und Inseln steht in Griechenland, Portugal, Italien alles auf der Verkaufsliste - so schnell erzwungen und den großen internationalen Konzerne und chinesischen Investoren als Schnäppchen angeboten werden? Nicht nur, dass diese verordneten Privatisierungen ein weiteres Zurückdrängen der Gestaltungsmöglichkeit der Politik bedeuten - die "Privatisierungswelle" hat mit den Verträgen, die mit Griechenland abgeschlossen wurden, eine neue "Qualität" erreicht.

Nach Darlegungen des Professors für Verfassungsrecht in Athen, Giorgos Kassimatis (Zitate aus einem Beitrag für die Zeitschrift "Widerspruch", Anm.), hat das griechische Parlament bis dato weder Kenntnis über die Verhandlungen der Regierung erhalten, noch über die Bedingungen der Abkommen, die Griechenland erfüllen muss.

Und deren Inhalte können sich sehen lassen. Nach dem Athener Professor verzichtet Griechenland "unwiderruflich und bedingungslos" auf jedes Schutzrecht, das gesamte griechische Staatsvermögen wird zugunsten der Gläubiger gebunden, "unabhängig, ob es sich dabei um unbewegliches oder bewegliches Vermögen, um Geldwerte oder Edelmetalle, um Wertpapiere und Rechte jeglicher Art, um oberirdische, unterirdische, im Meer oder im Meeresboden vorhandene Quellen nationalen Reichtums handelt". Die Gläubiger haben darüber hinaus das Recht, die Rechte aus dem Vertrag über finanzielle Unterstützung einem dritten Staat oder anderen Personen zu übertragen! "Auf diese Weise wird den Gläubigern die Möglichkeit eingeräumt, politische und wirtschaftliche Bindungen mit anderen Ländern zu schaffen, die für Griechenland verbindlich sind, ohne dass seine Zustimmung dafür erforderlich ist." Dies verletzt massiv das Prinzip der Achtung der nationalen Souveränität und des Rechtsstaates.

Da den Erfindern der Verträge bei deren Abfassung anscheinend doch nicht ganz geheuer war, wurde im "Vertrag über die finanzielle Unterstützung" eine besonders perfide und demütigende Bedingung von Griechenland eingefordert: die Regierung muss von seinen Ministerien Rechtsgutachten über die Richtigkeit dieser Verträge einholen, deren Wortlaut jedoch schon feststeht und als Anhang bei den Verträgen schon beigefügt ist. Dies widerspricht massiv dem Grundsatz der wissenschaftlichen Freiheit eines Gutachters, abgesehen von der Tatsache, dass eine derartige Bestimmung Europa nur mehr zur Schande gereicht.

Die vor allem im "Verständigungsmemorandum" geforderten radikalen Lohn-, Arbeitslosengeld- und Rentenkürzungen, die radikalen Schnitte im Sozialsystem und die massiven zusätzlichen Belastungen stellen einen Verstoß gegen die Grundrechte, die von der Europäischen Union garantiert werden, dar. Nach der glaubhaften Darlegung von Giorgos Kassimatis werden dabei grundlegende Prinzipien des Rechtsstaates, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes eklatant verletzt und die Fundamente des Rechtsstaates untergraben. Und er weist darauf hin, dass " entsprechende Kürzungen in Lettland und Rumänien, die dort vom IWF verlangt worden waren, von deren Verfassungsgerichten als verfassungswidrig beurteilt worden sind".

Man kann davon ausgehen, dass viele Menschen, gerade auch viele in den etablierten und wohlmeinenden bürgerlichen Kreisen, noch kaum realisiert haben, was dies alles für die gesamte demokratiepolitische und gesellschaftliche Kultur bedeutet.

Die Maßnahmen gegen Griechenland und gegen alle anderen PIIGS dienen also als Labor nicht nur für Sozialabbau, sondern auch für den politischen Umbau in ganz Europa. Denn man nennt sie "Hausaufgaben", und die werden bereits Schritt für Schritt von uns allen verlangt, denn wir gehen "alle in die gleiche Schule".

Unter der politischen Führung Deutschlands wird von einer Elite an einer neuen Wirtschaftsregierung gebastelt, und der (gegen die Stimmen der Sozialdemokraten und der Grünen) im EU-Parlament beschlossene "sixpack" ist eine der "Aufgaben", die in Zukunft für uns alle angedacht werden. Eine gemeinsame Wirtschaftsregierung war einer der Träume von Jacques Delors, und Forderung von Gewerkschaften, SozialdemokratInnen und Linken in Europa. Ihr Ziel war eine soziale Union. Jetzt wird sie in ihr Gegenteil verkehrt: Sie propagiert eine radikale Spar- und Lohnsenkungspolitik, die die bisher schon für den Euroraum schädlichen Leitlinien und monetaristischen Dogmen durch Recht versteinern, und die letztlich genau zu jenen Resultaten führen wird, die sie angeblich verhindern will. Was der Washington-Consensus einst für die Welt wird dieser "Berlin Consensus" - wie ich das nenne - für Europa bedeuten.

Dass daneben Ratingagenturen und "die Märkte" weiterhin ihr Unwesen treiben, stört Merkel, Ackermann und Co nicht. Manchmal hat man den Eindruck, dies sei ihnen sogar willkommen, um ihre Politik des Wettbewerbs durchzusetzen. Das Ergebnis wird eine verarmte europäische Gesellschaft zum Wohle der Banken, Konzerne und der internationalen Spekulation sein. (Sepp Wall-Strasser, DER STANDARD, 24.5.2012)