Die Hügel im "Weingelände", die Frau Berta Garlan mit ihrem fünfjährigen Buben im Licht eines heißen Frühlingstages herabsteigt, gehören zu einer Kleinstadt nahe der Wachau. Unwillkürlich denkt man an Krems, wo Berta das gut abgesicherte, aber nicht weiter aufregende Leben einer jungen Witwe fristet.

Die Ehe mit einem kaum geliebten Versicherungsbeamten war wie im Flug vergangen. Mit Bertas Wiener Herkunft verbinden sich noch immer die Fähigkeiten und Ansprüche einer Bürgertochter um 1900: Mit "Klavierlektionen" verdient sich Berta ein kleines Zubrot. Ihre Existenz hängt von der Duldung durch bornierte Verwandte ab. Sie erhält auch durch frivol gestimmte Bekannte keine nennenswerte Frischluftzufuhr.

Da trifft es sich gut, dass Berta, die sich seit einiger Zeit von unbestimmten Sehnsüchten geplagt fühlt, in der Zeitung von der Karriere ihrer großen Jugendliebe liest. Der Violinist Emil Lindbach reüssiert in der Welt als "königlich bayrischer Kammervirtuose". Anlässlich einer Preisverleihung entscheidet sich die Gelangweilte kurzerhand, ihm einen Glückwunschbrief zu schreiben. Berta spielt sehr bewusst mit dem Feuer der Begehrlichkeit.

Bildeten Wien-Reisen bislang die große Ausnahme in der Gleichförmigkeit ihrer Tage, so kann es ihr nach Erhalt von Emils kalkuliert freundlicher Antwort gar nicht schnell genug gehen. Die hochanständige Berta Garlan trifft den draufgängerischen Musikus im Kunsthistorischen Museum wieder. Wie durch Zauberhand gewinnt die Gehemmte ein Gefühl des Verfügungsrechtes über ihre anmutige Person.

Binnen weniger Stunden gelangt Berta ans Ziel ihrer widerstreitenden Wünsche, und es gehört zu Schnitzlers früher Meisterschaft, die Verwirrung weiblicher Empfindungen in freier, indirekter Rede gleichsam lückenlos wiederzugeben.

Noch in der Rekapitulation der Liebesnacht gelangt die Heldin dieses bemerkenswerten Kurzromans an Grenzen, deren Vermessung in die Kompetenz der zeitgleich entstehenden Psychoanalyse fällt. Berta staunt nicht schlecht über ihre sexuelle Regsamkeit, die keiner Routine entspringt, sondern allein "aus der Tiefe ihrer Empfindungen" herrührt.

Emils schnödes Angebot, sie als Geliebte zu seiner gelegentlichen Verwendung heranzuziehen, trifft auf den entschlossenen Widerstand Bertas, die - in aller Vorläufigkeit - ein gesundes Bewusstsein ihrer Bedürfnisse und Wünsche ausbildet. Heimgekehrt in die Krähwinkelstadt, bietet die Perspektive eines Daseins als vernachlässigter Bettschatz für Berta nicht den geringsten Anreiz.

Fast ist es schade, dass Schnitzler auf den letzten Seiten seines flirrenden Textes mit Moral und Nutzanwendung seines Gedankenspiels nicht geizt. "Die letzten Schauer einer verlangenden Weiblichkeit" münden unausweichlich in gesellschaftlich gebotenes Unglück. Eine gute Bekannte Bertas stirbt an den Folgen eines Abtreibungsversuchs.

Die wahre Pointe von "Frau Berta Garlan" steckt jedoch in der Beschaffung des Stoffs. Als Vorlage zur Figur der Berta diente dem Dichter seine Jugendliebe Fanny (Franziska Reich). Tatsächlich kamen sich Arthur und die unschuldige Gespielin aus frohen Jugendtagen etliche Jahre später sehr, sehr nahe - nachdem Franziska dem Autor brieflich zum Erhalt des Bauernfeld-Preises recht überschwänglich gratuliert hatte.

Schnitzlers knurriges Fazit: "Man soll erotische Rückstände nicht aufarbeiten." (Ronald Pohl, DER STANDARD, 9./10.6.2012)